Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

einem erst die Augen öffne, und jene seltsame Seelenstimmung trat in Vielen zu Tage, wo man bald mit Bestimmtheit ein Schuldig aussprechen möchte, bald zweifelvoll ist und wiederum ein Nichtschuldig sich herausstellen will.

Der Schultheiß erwarb sich das Lob eines gutherzigen Menschen, da er darlegte, daß man sich nicht, um zeitig zu seinem Mittagessen oder zu seinem Schoppen zu kommen, verleiten lassen dürfe, über das ganze Lebensschicksal eines Menschen rasch den Stab zu brechen.

Diethelm wurde staunend angesehen, als er sagte, ihm gehe es jetzt, wie ihm der Doctor von G. einmal erzählt habe. Als dieser zum Erstenmal von der Anatomie kam, sah er immer nichts als aufgeschnittene Menschen vor sich, und so gehe es ihm jetzt auch.

Als endlich am dritten Abend die Verhandlung geschlossen wurde und die Geschworenen sich mit den Fragen zurückzogen, war Diethelm froh, daß er nur Vorspann gewesen war und zurückbleiben durfte. Die Geschworenen kamen bald zurück. Der Schultheiß von Rettinghausen war Obmann, er erklärte die beiden Angeklagten für schuldig.

Als die Verbrecher abgeführt wurden, machte sich Diethelm rasch davon; aber unversehens war er an den unrechten Ausgang gekommen und sah plötzlich den Landjäger mit bloßem Schwerte hinter sich. Glücklicherweise klopfte ihm sein Schwiegersohn auf die Schulter und nahm ihn mit durch die Gerichtsstube.

Am andern Tage bei einer neuen Verhandlung blieb der Name Diethelm in der Urne, und der Steinbauer wurde richtig wiederum abgelehnt.

Diethelm wußte zwar nicht, was er zu Hause beginnen sollte, aber weil er auf mehrere Tage frei war, kehrte er doch heim. Verwundert sah er auf dem Wege, wie das Leben der Menschen draußen, die das nicht miterlebt haben, seinen geregelten Gang fortgeht; sie alle dachten nicht an

einem erst die Augen öffne, und jene seltsame Seelenstimmung trat in Vielen zu Tage, wo man bald mit Bestimmtheit ein Schuldig aussprechen möchte, bald zweifelvoll ist und wiederum ein Nichtschuldig sich herausstellen will.

Der Schultheiß erwarb sich das Lob eines gutherzigen Menschen, da er darlegte, daß man sich nicht, um zeitig zu seinem Mittagessen oder zu seinem Schoppen zu kommen, verleiten lassen dürfe, über das ganze Lebensschicksal eines Menschen rasch den Stab zu brechen.

Diethelm wurde staunend angesehen, als er sagte, ihm gehe es jetzt, wie ihm der Doctor von G. einmal erzählt habe. Als dieser zum Erstenmal von der Anatomie kam, sah er immer nichts als aufgeschnittene Menschen vor sich, und so gehe es ihm jetzt auch.

Als endlich am dritten Abend die Verhandlung geschlossen wurde und die Geschworenen sich mit den Fragen zurückzogen, war Diethelm froh, daß er nur Vorspann gewesen war und zurückbleiben durfte. Die Geschworenen kamen bald zurück. Der Schultheiß von Rettinghausen war Obmann, er erklärte die beiden Angeklagten für schuldig.

Als die Verbrecher abgeführt wurden, machte sich Diethelm rasch davon; aber unversehens war er an den unrechten Ausgang gekommen und sah plötzlich den Landjäger mit bloßem Schwerte hinter sich. Glücklicherweise klopfte ihm sein Schwiegersohn auf die Schulter und nahm ihn mit durch die Gerichtsstube.

Am andern Tage bei einer neuen Verhandlung blieb der Name Diethelm in der Urne, und der Steinbauer wurde richtig wiederum abgelehnt.

Diethelm wußte zwar nicht, was er zu Hause beginnen sollte, aber weil er auf mehrere Tage frei war, kehrte er doch heim. Verwundert sah er auf dem Wege, wie das Leben der Menschen draußen, die das nicht miterlebt haben, seinen geregelten Gang fortgeht; sie alle dachten nicht an

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="27">
        <p><pb facs="#f0209"/>
einem erst die Augen öffne,                und jene seltsame Seelenstimmung trat in Vielen zu Tage, wo man bald mit Bestimmtheit                ein Schuldig aussprechen möchte, bald zweifelvoll ist und wiederum ein Nichtschuldig                sich herausstellen will.</p><lb/>
        <p>Der Schultheiß erwarb sich das Lob eines gutherzigen Menschen, da er darlegte, daß                man sich nicht, um zeitig zu seinem Mittagessen oder zu seinem Schoppen zu kommen,                verleiten lassen dürfe, über das ganze Lebensschicksal eines Menschen rasch den Stab                zu brechen.</p><lb/>
        <p>Diethelm wurde staunend angesehen, als er sagte, ihm gehe es jetzt, wie ihm der                Doctor von G. einmal erzählt habe. Als dieser zum Erstenmal von der Anatomie kam, sah                er immer nichts als aufgeschnittene Menschen vor sich, und so gehe es ihm jetzt                auch.</p><lb/>
        <p>Als endlich am dritten Abend die Verhandlung geschlossen wurde und die Geschworenen                sich mit den Fragen zurückzogen, war Diethelm froh, daß er nur Vorspann gewesen war                und zurückbleiben durfte. Die Geschworenen kamen bald zurück. Der Schultheiß von                Rettinghausen war Obmann, er erklärte die beiden Angeklagten für schuldig.</p><lb/>
        <p>Als die Verbrecher abgeführt wurden, machte sich Diethelm rasch davon; aber                unversehens war er an den unrechten Ausgang gekommen und sah plötzlich den Landjäger                mit bloßem Schwerte hinter sich. Glücklicherweise klopfte ihm sein Schwiegersohn auf                die Schulter und nahm ihn mit durch die Gerichtsstube.</p><lb/>
        <p>Am andern Tage bei einer neuen Verhandlung blieb der Name Diethelm in der Urne, und                der Steinbauer wurde richtig wiederum abgelehnt.</p><lb/>
        <p>Diethelm wußte zwar nicht, was er zu Hause beginnen sollte, aber weil er auf mehrere                Tage frei war, kehrte er doch heim. Verwundert sah er auf dem Wege, wie das Leben der                Menschen draußen, die das nicht miterlebt haben, seinen geregelten Gang fortgeht; sie                alle dachten nicht an<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0209] einem erst die Augen öffne, und jene seltsame Seelenstimmung trat in Vielen zu Tage, wo man bald mit Bestimmtheit ein Schuldig aussprechen möchte, bald zweifelvoll ist und wiederum ein Nichtschuldig sich herausstellen will. Der Schultheiß erwarb sich das Lob eines gutherzigen Menschen, da er darlegte, daß man sich nicht, um zeitig zu seinem Mittagessen oder zu seinem Schoppen zu kommen, verleiten lassen dürfe, über das ganze Lebensschicksal eines Menschen rasch den Stab zu brechen. Diethelm wurde staunend angesehen, als er sagte, ihm gehe es jetzt, wie ihm der Doctor von G. einmal erzählt habe. Als dieser zum Erstenmal von der Anatomie kam, sah er immer nichts als aufgeschnittene Menschen vor sich, und so gehe es ihm jetzt auch. Als endlich am dritten Abend die Verhandlung geschlossen wurde und die Geschworenen sich mit den Fragen zurückzogen, war Diethelm froh, daß er nur Vorspann gewesen war und zurückbleiben durfte. Die Geschworenen kamen bald zurück. Der Schultheiß von Rettinghausen war Obmann, er erklärte die beiden Angeklagten für schuldig. Als die Verbrecher abgeführt wurden, machte sich Diethelm rasch davon; aber unversehens war er an den unrechten Ausgang gekommen und sah plötzlich den Landjäger mit bloßem Schwerte hinter sich. Glücklicherweise klopfte ihm sein Schwiegersohn auf die Schulter und nahm ihn mit durch die Gerichtsstube. Am andern Tage bei einer neuen Verhandlung blieb der Name Diethelm in der Urne, und der Steinbauer wurde richtig wiederum abgelehnt. Diethelm wußte zwar nicht, was er zu Hause beginnen sollte, aber weil er auf mehrere Tage frei war, kehrte er doch heim. Verwundert sah er auf dem Wege, wie das Leben der Menschen draußen, die das nicht miterlebt haben, seinen geregelten Gang fortgeht; sie alle dachten nicht an

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:04:01Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T13:04:01Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: nicht gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/auerbach_diethelm_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/auerbach_diethelm_1910/209
Zitationshilfe: Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/auerbach_diethelm_1910/209>, abgerufen am 28.11.2024.