meine Sprache. Am hohen Traubengeländer, das sich an die Kirchenmauer anlehnte stieg ich hinauf, und hörte die Schwalben in ihrem Nestchen plaudern; halb träu- mend zwitschern sie zwei- dreisylbige Töne und aus tiefer Ruhe seufzt die kleine Brust, einen süßen Wohl- laut der Befriedigung. Lauter Liebesglück, lauter Be- hagen, daß ihr Bettchen von befreundeter Wärme durch- strömt ist.
O Weh über mich, daß mir im Herzen so unend- lich weh ist, blos weil ich dies Leben der Natur mit angeschaut habe in meinen Kindertagen; diese tausend- fältigen Liebesseufzer, die die Sommernacht durchstöhnen, und inmitten dieser ein einsames Kind, einsam bis in's innerste Mark, das da lauscht, ihren Seeligkeiten, ihrer Inbrunst, das in dem Kelch der Blumen nach ihren Ge- heimnissen forscht, das ihren Duft in sich saugt wie eine Lehre der Weisheit, das erst über die Traube den See- gen spricht ehe es sie genießt.
Aber da war ein hoher Baum mit feinen phanta- stischen Zweigen, breiten Sammtblättern, die sich wie ein Laubdach ausdehnten; oft lag ich in seiner kühlen Umwölbung und sah hinauf wie das Licht durch ihn äugelte, und da lag ich mit freier Brust in tiefem Schlaf; ja mir träumte von süßen Gaben der Liebe,
Tagebuch. 3
meine Sprache. Am hohen Traubengeländer, das ſich an die Kirchenmauer anlehnte ſtieg ich hinauf, und hörte die Schwalben in ihrem Neſtchen plaudern; halb träu- mend zwitſchern ſie zwei- dreiſylbige Töne und aus tiefer Ruhe ſeufzt die kleine Bruſt, einen ſüßen Wohl- laut der Befriedigung. Lauter Liebesglück, lauter Be- hagen, daß ihr Bettchen von befreundeter Wärme durch- ſtrömt iſt.
O Weh über mich, daß mir im Herzen ſo unend- lich weh iſt, blos weil ich dies Leben der Natur mit angeſchaut habe in meinen Kindertagen; dieſe tauſend- fältigen Liebesſeufzer, die die Sommernacht durchſtöhnen, und inmitten dieſer ein einſames Kind, einſam bis in's innerſte Mark, das da lauſcht, ihren Seeligkeiten, ihrer Inbrunſt, das in dem Kelch der Blumen nach ihren Ge- heimniſſen forſcht, das ihren Duft in ſich ſaugt wie eine Lehre der Weisheit, das erſt über die Traube den See- gen ſpricht ehe es ſie genießt.
Aber da war ein hoher Baum mit feinen phanta- ſtiſchen Zweigen, breiten Sammtblättern, die ſich wie ein Laubdach ausdehnten; oft lag ich in ſeiner kühlen Umwölbung und ſah hinauf wie das Licht durch ihn äugelte, und da lag ich mit freier Bruſt in tiefem Schlaf; ja mir träumte von ſüßen Gaben der Liebe,
Tagebuch. 3
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meine Sprache. Am hohen Traubengeländer, das ſich
an die Kirchenmauer anlehnte ſtieg ich hinauf, und hörte
die Schwalben in ihrem Neſtchen plaudern; halb träu-
mend zwitſchern ſie zwei- dreiſylbige Töne und aus
tiefer Ruhe ſeufzt die kleine Bruſt, einen ſüßen Wohl-
laut der Befriedigung. Lauter Liebesglück, lauter Be-
hagen, daß ihr Bettchen von befreundeter Wärme durch-
ſtrömt iſt.
O Weh über mich, daß mir im Herzen ſo unend-
lich weh iſt, blos weil ich dies Leben der Natur mit
angeſchaut habe in meinen Kindertagen; dieſe tauſend-
fältigen Liebesſeufzer, die die Sommernacht durchſtöhnen,
und inmitten dieſer ein einſames Kind, einſam bis in's
innerſte Mark, das da lauſcht, ihren Seeligkeiten, ihrer
Inbrunſt, das in dem Kelch der Blumen nach ihren Ge-
heimniſſen forſcht, das ihren Duft in ſich ſaugt wie eine
Lehre der Weisheit, das erſt über die Traube den See-
gen ſpricht ehe es ſie genießt.
Aber da war ein hoher Baum mit feinen phanta-
ſtiſchen Zweigen, breiten Sammtblättern, die ſich wie
ein Laubdach ausdehnten; oft lag ich in ſeiner kühlen
Umwölbung und ſah hinauf wie das Licht durch ihn
äugelte, und da lag ich mit freier Bruſt in tiefem
Schlaf; ja mir träumte von ſüßen Gaben der Liebe,
Tagebuch. 3
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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/59>, abgerufen am 16.02.2025.
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