[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.men über seiner Brust, dieser Mann von sechzig Jah- *) Du siehst so ernst, Geliebter! Deinem Bilde Von Marmor hier möcht' ich dich wohl vergleichen; Wie dieses giebst du mir kein Lebenszeichen; Mit dir verglichen zeigt der Stein sich milde. Der Feind verbirgt sich hinter seinem Schilde. Der Freund soll offen seine Stirn uns reichen. Ich suche dich, du suchst mir zu entweichen; Doch halte Stand, wie dieses Kunstgebilde. An wen von beiden soll ich nun mich wenden? Sollt' ich von beiden Kälte leiden müssen, Da dieser todt und du lebendig heißest? Kurz, um der Worte mehr nicht zu verschwenden, So will ich diesen Stein so lange küssen, Bis eifersüchtig du mich ihm entreißest. 10**
men über ſeiner Bruſt, dieſer Mann von ſechzig Jah- *) Du ſiehſt ſo ernſt, Geliebter! Deinem Bilde Von Marmor hier möcht' ich dich wohl vergleichen; Wie dieſes giebſt du mir kein Lebenszeichen; Mit dir verglichen zeigt der Stein ſich milde. Der Feind verbirgt ſich hinter ſeinem Schilde. Der Freund ſoll offen ſeine Stirn uns reichen. Ich ſuche dich, du ſuchſt mir zu entweichen; Doch halte Stand, wie dieſes Kunſtgebilde. An wen von beiden ſoll ich nun mich wenden? Sollt' ich von beiden Kälte leiden müſſen, Da dieſer todt und du lebendig heißeſt? Kurz, um der Worte mehr nicht zu verſchwenden, So will ich dieſen Stein ſo lange küſſen, Bis eiferſüchtig du mich ihm entreißeſt. 10**
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men über ſeiner Bruſt, dieſer Mann von ſechzig Jah-
ren, ſah an mir hinauf, und gab mir ſüße Namen, und
ſagte die ſchönen Worte: Liebſtes Kind, du liegſt in
der Wiege meiner Bruſt *), dann ließ er mich an
die Erde, er wickelte meinen Arm in ſeinen Mantel und
hielt mir die Hand an ſein klopfend Herz und ſo gin-
gen wir langſamen Schrittes nach Haus; ich ſagte:
wie ſchlägt Dein Herz! — „Die Secunden, die mit ſol-
chem Klopfen mir an die Bruſt ſtürmen,“ ſagte er, „ſie
ſtürzen mit übereilter Leidenſchaft dir zu, auch du jagſt
*) Du ſiehſt ſo ernſt, Geliebter! Deinem Bilde
Von Marmor hier möcht' ich dich wohl vergleichen;
Wie dieſes giebſt du mir kein Lebenszeichen;
Mit dir verglichen zeigt der Stein ſich milde.
Der Feind verbirgt ſich hinter ſeinem Schilde.
Der Freund ſoll offen ſeine Stirn uns reichen.
Ich ſuche dich, du ſuchſt mir zu entweichen;
Doch halte Stand, wie dieſes Kunſtgebilde.
An wen von beiden ſoll ich nun mich wenden?
Sollt' ich von beiden Kälte leiden müſſen,
Da dieſer todt und du lebendig heißeſt?
Kurz, um der Worte mehr nicht zu verſchwenden,
So will ich dieſen Stein ſo lange küſſen,
Bis eiferſüchtig du mich ihm entreißeſt.
(Goethe's Werke, 2ter Band, Seite 6.)
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