meines Muthwillens, ich setzte mich wieder an seine Seite und ließ ihn gewähren, mich an sich ziehen, mich heftig an sein Herz drücken, nur mit dem Gesicht beugte ich aus und gab ihm die Wange wenn er nach dem Mund suchte. Er fragte, ob ich einen Beichtvater habe? -- ob ich diesem erzählen werde, daß er mich ge- küßt habe. Ich sagte naiv schalkhaft: wenn er glaube, daß dies dem Beichtvater Vergnügen machen werde, so wolle ich's ihm erzählen. "Non, mon amie, cela ne lui plaira pas, il n'en faut rien dire, cela ne lui plaira abso- lument pas, n'en dites rien a personne." In Offenbach erzählte ich's der Großmutter, die sah mich an und sagte: "mein Kind! ein blinder Mann, ein armer Mann!" -- Im Nachhausefahren fragte er, ob ich der Großmutter gesagt habe, daß er mich geküßt habe; ich sagte "ja." Nun, war die Großmutter bös? -- "Nein," "et bien? est ce qu'elle n'a rien dit?" -- "oui!" -- "et quoi?" -- "ein blinder Mann, ein armer Mann!" "O oui!" rief er, "elle a bien raison! ein blinder Mann, ein armer Mann!" und so rief er ein- mal ums andre: "ein blinder Mann, ein armer Mann!" bis er endlich in einen lauten Schrei der Klage ausbrach, der mir wie ein Schwert durch's Herz drang, aber meine Augen blieben trocken, während sei-
meines Muthwillens, ich ſetzte mich wieder an ſeine Seite und ließ ihn gewähren, mich an ſich ziehen, mich heftig an ſein Herz drücken, nur mit dem Geſicht beugte ich aus und gab ihm die Wange wenn er nach dem Mund ſuchte. Er fragte, ob ich einen Beichtvater habe? — ob ich dieſem erzählen werde, daß er mich ge- küßt habe. Ich ſagte naiv ſchalkhaft: wenn er glaube, daß dies dem Beichtvater Vergnügen machen werde, ſo wolle ich's ihm erzählen. „Non, mon amie, cela ne lui plaira pas, il n'en faut rien dire, cela ne lui plaira abso- lument pas, n'en dites rien à personne.“ In Offenbach erzählte ich's der Großmutter, die ſah mich an und ſagte: „mein Kind! ein blinder Mann, ein armer Mann!“ — Im Nachhauſefahren fragte er, ob ich der Großmutter geſagt habe, daß er mich geküßt habe; ich ſagte „ja.“ Nun, war die Großmutter bös? — „Nein,“ „et bien? est ce qu'elle n'a rien dit?“ — „oui!“ — „et quoi?“ — „ein blinder Mann, ein armer Mann!“ „O oui!“ rief er, „elle a bien raison! ein blinder Mann, ein armer Mann!“ und ſo rief er ein- mal ums andre: „ein blinder Mann, ein armer Mann!“ bis er endlich in einen lauten Schrei der Klage ausbrach, der mir wie ein Schwert durch's Herz drang, aber meine Augen blieben trocken, während ſei-
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meines Muthwillens, ich ſetzte mich wieder an ſeine
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heftig an ſein Herz drücken, nur mit dem Geſicht beugte
ich aus und gab ihm die Wange wenn er nach dem
Mund ſuchte. Er fragte, ob ich einen Beichtvater
habe? — ob ich dieſem erzählen werde, daß er mich ge-
küßt habe. Ich ſagte naiv ſchalkhaft: wenn er glaube,
daß dies dem Beichtvater Vergnügen machen werde, ſo
wolle ich's ihm erzählen. „Non, mon amie, cela ne lui
plaira pas, il n'en faut rien dire, cela ne lui plaira abso-
lument pas, n'en dites rien à personne.“ In Offenbach
erzählte ich's der Großmutter, die ſah mich an und
ſagte: „mein Kind! ein blinder Mann, ein armer
Mann!“ — Im Nachhauſefahren fragte er, ob ich
der Großmutter geſagt habe, daß er mich geküßt habe;
ich ſagte „ja.“ Nun, war die Großmutter bös? —
„Nein,“ „et bien? est ce qu'elle n'a rien dit?“ —
„oui!“ — „et quoi?“ — „ein blinder Mann, ein armer
Mann!“ „O oui!“ rief er, „elle a bien raison! ein
blinder Mann, ein armer Mann!“ und ſo rief er ein-
mal ums andre: „ein blinder Mann, ein armer
Mann!“ bis er endlich in einen lauten Schrei der
Klage ausbrach, der mir wie ein Schwert durch's Herz
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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/162>, abgerufen am 16.02.2025.
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