Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

den entlassen und gingen in den Garten; -- wir tru-
gen damals breite Schärpen von blau und weiß ge-
flammter Seide, auf dem Rücken waren sie in Schleifen
gebunden, die in der vollen Breite, welche wohl eine
Elle betrug, ausgebreitet waren, so daß sie gleichsam
Schmetterlingsflügel bildeten. Während ich in meinem
Blumenbeet arbeitete, haschte mich Einer an diesen Flü-
geln; es war Herder, "siehst du, kleine Psyche," sagte
er, "mit den Flügeln genießt man wohl die Freiheit,
wenn man sie zu rechter Zeit zu brauchen weiß, aber
an den Flügeln wird man auch gefangen, und was
giebst du, daß ich dich wieder los lasse?" -- er ver-
langte einen Kuß, ich verneigte mich und küßte ihn,
ohne das Geringste einzuwenden.

Der Kuß des geretteten Franzosen war ganz im
Einverständniß meiner Empfindung, ich kam ihm auf
halbem Weg entgegen, und doch war er unmittelbar
darauf vergessen, und jetzt erst, nach sechs Jahren,
tauchte er aus meiner Erinnerung auf, als eine neue
Erscheinung. Herder's Kuß war von meiner Seite ganz
willenlos oder eher unwillig angenommen, und doch
hab' ich ihn nicht vergessen; ich konnte in erster Zeit
den Eindruck nicht verwinden, er verfolgte mich im
Traum; bald war mir's, als habe ich wider meinen

den entlaſſen und gingen in den Garten; — wir tru-
gen damals breite Schärpen von blau und weiß ge-
flammter Seide, auf dem Rücken waren ſie in Schleifen
gebunden, die in der vollen Breite, welche wohl eine
Elle betrug, ausgebreitet waren, ſo daß ſie gleichſam
Schmetterlingsflügel bildeten. Während ich in meinem
Blumenbeet arbeitete, haſchte mich Einer an dieſen Flü-
geln; es war Herder, „ſiehſt du, kleine Pſyche,“ ſagte
er, „mit den Flügeln genießt man wohl die Freiheit,
wenn man ſie zu rechter Zeit zu brauchen weiß, aber
an den Flügeln wird man auch gefangen, und was
giebſt du, daß ich dich wieder los laſſe?“ — er ver-
langte einen Kuß, ich verneigte mich und küßte ihn,
ohne das Geringſte einzuwenden.

Der Kuß des geretteten Franzoſen war ganz im
Einverſtändniß meiner Empfindung, ich kam ihm auf
halbem Weg entgegen, und doch war er unmittelbar
darauf vergeſſen, und jetzt erſt, nach ſechs Jahren,
tauchte er aus meiner Erinnerung auf, als eine neue
Erſcheinung. Herder's Kuß war von meiner Seite ganz
willenlos oder eher unwillig angenommen, und doch
hab' ich ihn nicht vergeſſen; ich konnte in erſter Zeit
den Eindruck nicht verwinden, er verfolgte mich im
Traum; bald war mir's, als habe ich wider meinen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0156" n="146"/>
den entla&#x017F;&#x017F;en und gingen in den Garten; &#x2014; wir tru-<lb/>
gen damals breite Schärpen von blau und weiß ge-<lb/>
flammter Seide, auf dem Rücken waren &#x017F;ie in Schleifen<lb/>
gebunden, die in der vollen Breite, welche wohl eine<lb/>
Elle betrug, ausgebreitet waren, &#x017F;o daß &#x017F;ie gleich&#x017F;am<lb/>
Schmetterlingsflügel bildeten. Während ich in meinem<lb/>
Blumenbeet arbeitete, ha&#x017F;chte mich Einer an die&#x017F;en Flü-<lb/>
geln; es war Herder, &#x201E;&#x017F;ieh&#x017F;t du, kleine P&#x017F;yche,&#x201C; &#x017F;agte<lb/>
er, &#x201E;mit den Flügeln genießt man wohl die Freiheit,<lb/>
wenn man &#x017F;ie zu rechter Zeit zu brauchen weiß, aber<lb/>
an den Flügeln wird man auch gefangen, und was<lb/>
gieb&#x017F;t du, daß ich dich wieder los la&#x017F;&#x017F;e?&#x201C; &#x2014; er ver-<lb/>
langte einen Kuß, ich verneigte mich und küßte ihn,<lb/>
ohne das Gering&#x017F;te einzuwenden.</p><lb/>
          <p>Der Kuß des geretteten Franzo&#x017F;en war ganz im<lb/>
Einver&#x017F;tändniß meiner Empfindung, ich kam ihm auf<lb/>
halbem Weg entgegen, und doch war er unmittelbar<lb/>
darauf verge&#x017F;&#x017F;en, und jetzt er&#x017F;t, nach &#x017F;echs Jahren,<lb/>
tauchte er aus meiner Erinnerung auf, als eine neue<lb/>
Er&#x017F;cheinung. Herder's Kuß war von meiner Seite ganz<lb/>
willenlos oder eher unwillig angenommen, und doch<lb/>
hab' ich ihn nicht verge&#x017F;&#x017F;en; ich konnte in er&#x017F;ter Zeit<lb/>
den Eindruck nicht verwinden, er verfolgte mich im<lb/>
Traum; bald war mir's, als habe ich wider meinen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0156] den entlaſſen und gingen in den Garten; — wir tru- gen damals breite Schärpen von blau und weiß ge- flammter Seide, auf dem Rücken waren ſie in Schleifen gebunden, die in der vollen Breite, welche wohl eine Elle betrug, ausgebreitet waren, ſo daß ſie gleichſam Schmetterlingsflügel bildeten. Während ich in meinem Blumenbeet arbeitete, haſchte mich Einer an dieſen Flü- geln; es war Herder, „ſiehſt du, kleine Pſyche,“ ſagte er, „mit den Flügeln genießt man wohl die Freiheit, wenn man ſie zu rechter Zeit zu brauchen weiß, aber an den Flügeln wird man auch gefangen, und was giebſt du, daß ich dich wieder los laſſe?“ — er ver- langte einen Kuß, ich verneigte mich und küßte ihn, ohne das Geringſte einzuwenden. Der Kuß des geretteten Franzoſen war ganz im Einverſtändniß meiner Empfindung, ich kam ihm auf halbem Weg entgegen, und doch war er unmittelbar darauf vergeſſen, und jetzt erſt, nach ſechs Jahren, tauchte er aus meiner Erinnerung auf, als eine neue Erſcheinung. Herder's Kuß war von meiner Seite ganz willenlos oder eher unwillig angenommen, und doch hab' ich ihn nicht vergeſſen; ich konnte in erſter Zeit den Eindruck nicht verwinden, er verfolgte mich im Traum; bald war mir's, als habe ich wider meinen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/156
Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/156>, abgerufen am 24.11.2024.