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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835.

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schienenen, blütheduftenden Garten; wir gingen langsa-
men Schrittes Hand in Hand bis hinter die Pappel-
wand, an die Mauer, wo alle Jahr die Nachtigall in
der Rosenhecke ihr Nest baute, es war grade die Zeit,
was half's -- dies Jahr mußte sie gestört werden. Da
wollte er mir danken, da nahm er mich auf seine Arme
und hob mich hoch, er warf die Mütze ab und legte
den verbundenen Kopf auf meine Brust, was hatte ich
zu thun? ich hatte die Arme frei, ich faltete sie über
seinem Kopf zum Gebet; er küßte mich, stieg über die
Rosenhecken-Mauer in einen Garten, der zum Main
führte, da konnte er sich übersetzen, denn es waren
Nachen am Ufer.

Es giebt unerwartete Erfahrungen, die sind ver-
gessen, gleich als ob sie nicht erlebt wären, und erst
dann wenn sie wieder aus dem Gedächtnißbrunnen her-
aufsteigen ergiebt sich ihre Bedeutung -- es ist als ob
eine Lebenserfahrung dazu gehörte, ihre Wichtigkeit
empfinden zu lernen; es sind andre Begebnisse, auf die
man mit Begeistrung harrt, und die schwimmen so gleich-
gültig vorüber wie das fließende Wasser. -- Wie Du
mich fragtest, wer mir den ersten Kuß gegeben habe,
dessen ich mich deutlich erinnere, da schweifte mein Be-
sinnen hin und her wie ein Weberschiffchen, bis allmäh-

ſchienenen, blütheduftenden Garten; wir gingen langſa-
men Schrittes Hand in Hand bis hinter die Pappel-
wand, an die Mauer, wo alle Jahr die Nachtigall in
der Roſenhecke ihr Neſt baute, es war grade die Zeit,
was half's — dies Jahr mußte ſie geſtört werden. Da
wollte er mir danken, da nahm er mich auf ſeine Arme
und hob mich hoch, er warf die Mütze ab und legte
den verbundenen Kopf auf meine Bruſt, was hatte ich
zu thun? ich hatte die Arme frei, ich faltete ſie über
ſeinem Kopf zum Gebet; er küßte mich, ſtieg über die
Roſenhecken-Mauer in einen Garten, der zum Main
führte, da konnte er ſich überſetzen, denn es waren
Nachen am Ufer.

Es giebt unerwartete Erfahrungen, die ſind ver-
geſſen, gleich als ob ſie nicht erlebt wären, und erſt
dann wenn ſie wieder aus dem Gedächtnißbrunnen her-
aufſteigen ergiebt ſich ihre Bedeutung — es iſt als ob
eine Lebenserfahrung dazu gehörte, ihre Wichtigkeit
empfinden zu lernen; es ſind andre Begebniſſe, auf die
man mit Begeiſtrung harrt, und die ſchwimmen ſo gleich-
gültig vorüber wie das fließende Waſſer. — Wie Du
mich fragteſt, wer mir den erſten Kuß gegeben habe,
deſſen ich mich deutlich erinnere, da ſchweifte mein Be-
ſinnen hin und her wie ein Weberſchiffchen, bis allmäh-

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[135/0145] ſchienenen, blütheduftenden Garten; wir gingen langſa- men Schrittes Hand in Hand bis hinter die Pappel- wand, an die Mauer, wo alle Jahr die Nachtigall in der Roſenhecke ihr Neſt baute, es war grade die Zeit, was half's — dies Jahr mußte ſie geſtört werden. Da wollte er mir danken, da nahm er mich auf ſeine Arme und hob mich hoch, er warf die Mütze ab und legte den verbundenen Kopf auf meine Bruſt, was hatte ich zu thun? ich hatte die Arme frei, ich faltete ſie über ſeinem Kopf zum Gebet; er küßte mich, ſtieg über die Roſenhecken-Mauer in einen Garten, der zum Main führte, da konnte er ſich überſetzen, denn es waren Nachen am Ufer. Es giebt unerwartete Erfahrungen, die ſind ver- geſſen, gleich als ob ſie nicht erlebt wären, und erſt dann wenn ſie wieder aus dem Gedächtnißbrunnen her- aufſteigen ergiebt ſich ihre Bedeutung — es iſt als ob eine Lebenserfahrung dazu gehörte, ihre Wichtigkeit empfinden zu lernen; es ſind andre Begebniſſe, auf die man mit Begeiſtrung harrt, und die ſchwimmen ſo gleich- gültig vorüber wie das fließende Waſſer. — Wie Du mich fragteſt, wer mir den erſten Kuß gegeben habe, deſſen ich mich deutlich erinnere, da ſchweifte mein Be- ſinnen hin und her wie ein Weberſchiffchen, bis allmäh-

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Zitationshilfe: [Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/145>, abgerufen am 24.11.2024.