tiger Bewegung und keine Worte kannten; ich erinnere mich gar nicht, daß ich mit Selbstbewußtsein Dir die Treue zugesagt hätte, es ist alles mächtiger in mir wie ich, ich kann nicht regieren, ich kann nicht wollen, ich muß alles geschehen lassen. Zwei einzige Stunden wa- ren so voll Ewigkeit; einen einzigen Frühling verlangte ich damals, und jetzt meine ich kaum daß ich diesen bewältigen könne mein ganzes Leben lang, und mir klopft das Herz jetzt eben so vor Unruh, wenn ich mich in die Mitte jenes Frühlings denke. Ich bin am Ende des Blattes, und wär's nicht gar zu sehr auf Dich ge- sündigt, so möcht ich ein neues anfangen, um so fort zu plaudern; ich liege hier auf dem Sopha und schreibe den Brief auf einem Kissen, deswegen ist er auch so ungleich. Daß sie doch alle vergehen, wenn ich zu Dir sprechen will, diese Gedanken, die so ungerufen vor mir auf- und niedertanzen, von denen Schelling sagt: es sei unbewußte Philosophie.
Lebe wohl! So wie die vom Wind getragne Saa- menflocke auf den Wellen hintanzt, so spielt meine Phantasie auf diesem mächtigen Strom deines ganzen Wesens, und scheut nicht drinn unterzugehen; möchte sie doch! welch seeliger Tod! --
Geschrieben am 16. Juni in München an einem
tiger Bewegung und keine Worte kannten; ich erinnere mich gar nicht, daß ich mit Selbſtbewußtſein Dir die Treue zugeſagt hätte, es iſt alles mächtiger in mir wie ich, ich kann nicht regieren, ich kann nicht wollen, ich muß alles geſchehen laſſen. Zwei einzige Stunden wa- ren ſo voll Ewigkeit; einen einzigen Frühling verlangte ich damals, und jetzt meine ich kaum daß ich dieſen bewältigen könne mein ganzes Leben lang, und mir klopft das Herz jetzt eben ſo vor Unruh, wenn ich mich in die Mitte jenes Frühlings denke. Ich bin am Ende des Blattes, und wär's nicht gar zu ſehr auf Dich ge- ſündigt, ſo möcht ich ein neues anfangen, um ſo fort zu plaudern; ich liege hier auf dem Sopha und ſchreibe den Brief auf einem Kiſſen, deswegen iſt er auch ſo ungleich. Daß ſie doch alle vergehen, wenn ich zu Dir ſprechen will, dieſe Gedanken, die ſo ungerufen vor mir auf- und niedertanzen, von denen Schelling ſagt: es ſei unbewußte Philoſophie.
Lebe wohl! So wie die vom Wind getragne Saa- menflocke auf den Wellen hintanzt, ſo ſpielt meine Phantaſie auf dieſem mächtigen Strom deines ganzen Weſens, und ſcheut nicht drinn unterzugehen; möchte ſie doch! welch ſeeliger Tod! —
Geſchrieben am 16. Juni in München an einem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0096"n="86"/>
tiger Bewegung und keine Worte kannten; ich erinnere<lb/>
mich gar nicht, daß ich mit Selbſtbewußtſein Dir die<lb/>
Treue zugeſagt hätte, es iſt alles mächtiger in mir wie<lb/>
ich, ich kann nicht regieren, ich kann nicht wollen, ich<lb/>
muß alles geſchehen laſſen. Zwei einzige Stunden wa-<lb/>
ren ſo voll Ewigkeit; einen einzigen Frühling verlangte<lb/>
ich damals, und jetzt meine ich kaum daß ich dieſen<lb/>
bewältigen könne mein ganzes Leben lang, und mir<lb/>
klopft das Herz jetzt eben ſo vor Unruh, wenn ich mich<lb/>
in die Mitte jenes Frühlings denke. Ich bin am Ende<lb/>
des Blattes, und wär's nicht gar zu ſehr auf Dich ge-<lb/>ſündigt, ſo möcht ich ein neues anfangen, um ſo fort<lb/>
zu plaudern; ich liege hier auf dem Sopha und ſchreibe<lb/>
den Brief auf einem Kiſſen, deswegen iſt er auch ſo<lb/>
ungleich. Daß ſie doch alle vergehen, wenn ich zu Dir<lb/>ſprechen will, dieſe Gedanken, die ſo ungerufen vor mir<lb/>
auf- und niedertanzen, von denen Schelling ſagt: es<lb/>ſei unbewußte Philoſophie.</p><lb/><p>Lebe wohl! So wie die vom Wind getragne Saa-<lb/>
menflocke auf den Wellen hintanzt, ſo ſpielt meine<lb/>
Phantaſie auf dieſem mächtigen Strom deines ganzen<lb/>
Weſens, und ſcheut nicht drinn unterzugehen; möchte<lb/>ſie doch! welch ſeeliger Tod! —</p><lb/><p>Geſchrieben am 16. Juni in München an einem<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[86/0096]
tiger Bewegung und keine Worte kannten; ich erinnere
mich gar nicht, daß ich mit Selbſtbewußtſein Dir die
Treue zugeſagt hätte, es iſt alles mächtiger in mir wie
ich, ich kann nicht regieren, ich kann nicht wollen, ich
muß alles geſchehen laſſen. Zwei einzige Stunden wa-
ren ſo voll Ewigkeit; einen einzigen Frühling verlangte
ich damals, und jetzt meine ich kaum daß ich dieſen
bewältigen könne mein ganzes Leben lang, und mir
klopft das Herz jetzt eben ſo vor Unruh, wenn ich mich
in die Mitte jenes Frühlings denke. Ich bin am Ende
des Blattes, und wär's nicht gar zu ſehr auf Dich ge-
ſündigt, ſo möcht ich ein neues anfangen, um ſo fort
zu plaudern; ich liege hier auf dem Sopha und ſchreibe
den Brief auf einem Kiſſen, deswegen iſt er auch ſo
ungleich. Daß ſie doch alle vergehen, wenn ich zu Dir
ſprechen will, dieſe Gedanken, die ſo ungerufen vor mir
auf- und niedertanzen, von denen Schelling ſagt: es
ſei unbewußte Philoſophie.
Lebe wohl! So wie die vom Wind getragne Saa-
menflocke auf den Wellen hintanzt, ſo ſpielt meine
Phantaſie auf dieſem mächtigen Strom deines ganzen
Weſens, und ſcheut nicht drinn unterzugehen; möchte
ſie doch! welch ſeeliger Tod! —
Geſchrieben am 16. Juni in München an einem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/96>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.