Nicht geahndet hab' ich es, daß ich je wieder so viel Herz fassen würde an Dich zu schreiben, bist Du es denn? oder ist es nur meine Erinnerung die sich so in der Einsamkeit zu mir lagert und mich allein mit ihren offnen Augen anblickt, ach wie vielmal hab' ich in solchen Stunden Dir die Hand dargeboten, daß Du die Deinigen hineinlegen mögtest, daß ich sie beide an meine Lippen drücken könnte. -- Ich fühl' es jetzt wohl, daß es nicht leicht war mich in meiner Leidenschaftlich- keit zu ertragen, ja ich ertrage mich selbst nicht, und mit Schauder wende ich mich von all den Schmerzen, die die Betrachtung in mir aufwühlt.
Warum aber grad heute, nachdem Jahre vorüber sind, nachdem Stunden verwunden sind, wo ich mit Geistern zu kämpfen hatte, die mich zu Dir hin mahn- ten? heute bedachte ich es, daß vielleicht auch Du nie eine Liebe erfahren habest, die bis an's End gewährt habe, heute hatte ich die Haare in Händen, die Deine Mutter sich abschnitt, um sie mir als ein Zeichen ihrer Liebe nach ihrem Tode reichen zu lassen, und da faßte ich Herz, einmal will ich Dich noch rufen, was kann mir widerfahren wenn Du nicht hörst? --
Den 1. Auguſt 1817.
Nicht geahndet hab' ich es, daß ich je wieder ſo viel Herz faſſen würde an Dich zu ſchreiben, biſt Du es denn? oder iſt es nur meine Erinnerung die ſich ſo in der Einſamkeit zu mir lagert und mich allein mit ihren offnen Augen anblickt, ach wie vielmal hab' ich in ſolchen Stunden Dir die Hand dargeboten, daß Du die Deinigen hineinlegen mögteſt, daß ich ſie beide an meine Lippen drücken könnte. — Ich fühl' es jetzt wohl, daß es nicht leicht war mich in meiner Leidenſchaftlich- keit zu ertragen, ja ich ertrage mich ſelbſt nicht, und mit Schauder wende ich mich von all den Schmerzen, die die Betrachtung in mir aufwühlt.
Warum aber grad heute, nachdem Jahre vorüber ſind, nachdem Stunden verwunden ſind, wo ich mit Geiſtern zu kämpfen hatte, die mich zu Dir hin mahn- ten? heute bedachte ich es, daß vielleicht auch Du nie eine Liebe erfahren habeſt, die bis an's End gewährt habe, heute hatte ich die Haare in Händen, die Deine Mutter ſich abſchnitt, um ſie mir als ein Zeichen ihrer Liebe nach ihrem Tode reichen zu laſſen, und da faßte ich Herz, einmal will ich Dich noch rufen, was kann mir widerfahren wenn Du nicht hörſt? —
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0310"n="300"/><divn="2"><dateline><hirendition="#et">Den 1. Auguſt 1817.</hi></dateline><lb/><p>Nicht geahndet hab' ich es, daß ich je wieder ſo<lb/>
viel Herz faſſen würde an Dich zu ſchreiben, biſt Du<lb/>
es denn? oder iſt es nur meine Erinnerung die ſich ſo<lb/>
in der Einſamkeit zu mir lagert und mich allein mit<lb/>
ihren offnen Augen anblickt, ach wie vielmal hab' ich<lb/>
in ſolchen Stunden Dir die Hand dargeboten, daß Du<lb/>
die Deinigen hineinlegen mögteſt, daß ich ſie beide an<lb/>
meine Lippen drücken könnte. — Ich fühl' es jetzt wohl,<lb/>
daß es nicht leicht war mich in meiner Leidenſchaftlich-<lb/>
keit zu ertragen, ja ich ertrage mich ſelbſt nicht, und<lb/>
mit Schauder wende ich mich von all den Schmerzen,<lb/>
die die Betrachtung in mir aufwühlt.</p><lb/><p>Warum aber grad heute, nachdem Jahre vorüber<lb/>ſind, nachdem Stunden verwunden ſind, wo ich mit<lb/>
Geiſtern zu kämpfen hatte, die mich zu Dir hin mahn-<lb/>
ten? heute bedachte ich es, daß vielleicht auch Du nie<lb/>
eine Liebe erfahren habeſt, die bis an's End gewährt<lb/>
habe, heute hatte ich die Haare in Händen, die Deine<lb/>
Mutter ſich abſchnitt, um ſie mir als ein Zeichen ihrer<lb/>
Liebe nach ihrem Tode reichen zu laſſen, und da faßte<lb/>
ich Herz, einmal will ich Dich noch rufen, was kann<lb/>
mir widerfahren wenn Du nicht hörſt? —</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[300/0310]
Den 1. Auguſt 1817.
Nicht geahndet hab' ich es, daß ich je wieder ſo
viel Herz faſſen würde an Dich zu ſchreiben, biſt Du
es denn? oder iſt es nur meine Erinnerung die ſich ſo
in der Einſamkeit zu mir lagert und mich allein mit
ihren offnen Augen anblickt, ach wie vielmal hab' ich
in ſolchen Stunden Dir die Hand dargeboten, daß Du
die Deinigen hineinlegen mögteſt, daß ich ſie beide an
meine Lippen drücken könnte. — Ich fühl' es jetzt wohl,
daß es nicht leicht war mich in meiner Leidenſchaftlich-
keit zu ertragen, ja ich ertrage mich ſelbſt nicht, und
mit Schauder wende ich mich von all den Schmerzen,
die die Betrachtung in mir aufwühlt.
Warum aber grad heute, nachdem Jahre vorüber
ſind, nachdem Stunden verwunden ſind, wo ich mit
Geiſtern zu kämpfen hatte, die mich zu Dir hin mahn-
ten? heute bedachte ich es, daß vielleicht auch Du nie
eine Liebe erfahren habeſt, die bis an's End gewährt
habe, heute hatte ich die Haare in Händen, die Deine
Mutter ſich abſchnitt, um ſie mir als ein Zeichen ihrer
Liebe nach ihrem Tode reichen zu laſſen, und da faßte
ich Herz, einmal will ich Dich noch rufen, was kann
mir widerfahren wenn Du nicht hörſt? —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/310>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.