es sei der Geist der Wahrheit mit dem kräftigen Leib der Natur angethan, und nannte es ihr Glaubensbe- kenntniß, die Melodieen waren elend und unwahr ge- gen den Nachdruck ihres Vortrags, und gegen das Gefühl was in vollem Maaße aus ihrer Stimme hervorklang. Nur wer die Sehnsucht kennt; ihr Auge ruhte dabei auf den Knopf des Katharinenthurms, der das letzte Ziel der Aussicht war die sie vom Sitz an ihrem Fenster hatte, die Lippen bewegten sich herb, die sie am End immer schmerzlich ernst schloß, während ihr Blick in die Ferne verloren glühte, es war als ob ihre Jugendsinne wieder anschwellen, dann drückte sie mir wohl die Hand, und überraschte mich mit den Wor- ten: Du verstehst den Wolfgang und liebst ihn. -- Ihr Gedächtniß war nicht allein merkwürdig, es war sehr herrlich; der Eindruck mächtiger Gefühle entwickelte sich in seiner vollen Gewalt bei ihren Erinnerungen, und hier will ich Dir die Geschichte, die ich Dir schon in München mittheilen wollte und die so wunderbar mit ihrem Tode zusammen hing, als Beispiel ihres großen Herzens hinschreiben, so einfach wie sie mir selbst es er- zählt hat. Eh ich in's Rheingau reiste kam ich um Ab- schied zu nehmen, sie sagte indem sich ein Posthorn auf der Straße hören ließ, daß ihr dieser Ton immer noch
es ſei der Geiſt der Wahrheit mit dem kräftigen Leib der Natur angethan, und nannte es ihr Glaubensbe- kenntniß, die Melodieen waren elend und unwahr ge- gen den Nachdruck ihres Vortrags, und gegen das Gefühl was in vollem Maaße aus ihrer Stimme hervorklang. Nur wer die Sehnſucht kennt; ihr Auge ruhte dabei auf den Knopf des Katharinenthurms, der das letzte Ziel der Ausſicht war die ſie vom Sitz an ihrem Fenſter hatte, die Lippen bewegten ſich herb, die ſie am End immer ſchmerzlich ernſt ſchloß, während ihr Blick in die Ferne verloren glühte, es war als ob ihre Jugendſinne wieder anſchwellen, dann drückte ſie mir wohl die Hand, und überraſchte mich mit den Wor- ten: Du verſtehſt den Wolfgang und liebſt ihn. — Ihr Gedächtniß war nicht allein merkwürdig, es war ſehr herrlich; der Eindruck mächtiger Gefühle entwickelte ſich in ſeiner vollen Gewalt bei ihren Erinnerungen, und hier will ich Dir die Geſchichte, die ich Dir ſchon in München mittheilen wollte und die ſo wunderbar mit ihrem Tode zuſammen hing, als Beiſpiel ihres großen Herzens hinſchreiben, ſo einfach wie ſie mir ſelbſt es er- zählt hat. Eh ich in's Rheingau reiſte kam ich um Ab- ſchied zu nehmen, ſie ſagte indem ſich ein Poſthorn auf der Straße hören ließ, daß ihr dieſer Ton immer noch
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es ſei der Geiſt der Wahrheit mit dem kräftigen Leib
der Natur angethan, und nannte es ihr Glaubensbe-
kenntniß, die Melodieen waren elend und unwahr ge-
gen den Nachdruck ihres Vortrags, und gegen das
Gefühl was in vollem Maaße aus ihrer Stimme
hervorklang. Nur wer die Sehnſucht kennt; ihr
Auge ruhte dabei auf den Knopf des Katharinenthurms,
der das letzte Ziel der Ausſicht war die ſie vom Sitz
an ihrem Fenſter hatte, die Lippen bewegten ſich herb,
die ſie am End immer ſchmerzlich ernſt ſchloß, während
ihr Blick in die Ferne verloren glühte, es war als ob
ihre Jugendſinne wieder anſchwellen, dann drückte ſie
mir wohl die Hand, und überraſchte mich mit den Wor-
ten: Du verſtehſt den Wolfgang und liebſt ihn. — Ihr
Gedächtniß war nicht allein merkwürdig, es war ſehr
herrlich; der Eindruck mächtiger Gefühle entwickelte ſich
in ſeiner vollen Gewalt bei ihren Erinnerungen, und
hier will ich Dir die Geſchichte, die ich Dir ſchon in
München mittheilen wollte und die ſo wunderbar mit
ihrem Tode zuſammen hing, als Beiſpiel ihres großen
Herzens hinſchreiben, ſo einfach wie ſie mir ſelbſt es er-
zählt hat. Eh ich in's Rheingau reiſte kam ich um Ab-
ſchied zu nehmen, ſie ſagte indem ſich ein Poſthorn auf
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/281>, abgerufen am 24.11.2024.
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