nicht nach mir? -- möchtest Du nicht zuweilen bei mir sein? -- Sehnsucht ist ja doch die rechte Fährte, sie weckt ein höheres Leben, giebt helle Ahnung noch uner- kannter Wahrheiten, vernichtet allen Zweifel, und ist sie die sicherste Prophetin seines Glückes.
Dir sind alle Reiche aufgethan, Natur, Wissen- schaft und Kunst, aus allen sind den Fragen deiner Sehn- sucht göttliche Wahrheiten zugeströmt. -- Was hab ich? -- ich habe Dich auf tausend Fragen.
Hier in der tiefen Felsschlucht denk ich so allerlei; -- ich hab mich einen halsbrechenden Weg herunter ge- wagt, wie werd ich wieder hinauf kommen an diesen glatten Felswänden an denen ich vergeblich die Spur suche wo ich herab geglitten bin. -- Selbstvertrauen ist Vertrauen auf Gott, er wird mich doch nicht stecken las- sen! -- Ich lieg hier unter frischen hohen Kräutern die mir die heiße Brust kühlen, viele kleine Würmchen und Spinnen klettern über mich hinaus, alles wimmelt ge- schäftig um mich her. Die Eidexen schlüpfen aus ihren feuchten Löchern und heben das Köpfchen und staunen mich an mit ihren klugen Augen, und schlüpfen eilig zurück; sie sagen's einander daß ich da bin; -- ich der Liebling des Dichters -- es kommen immer mehr und gucken.
nicht nach mir? — möchteſt Du nicht zuweilen bei mir ſein? — Sehnſucht iſt ja doch die rechte Fährte, ſie weckt ein höheres Leben, giebt helle Ahnung noch uner- kannter Wahrheiten, vernichtet allen Zweifel, und iſt ſie die ſicherſte Prophetin ſeines Glückes.
Dir ſind alle Reiche aufgethan, Natur, Wiſſen- ſchaft und Kunſt, aus allen ſind den Fragen deiner Sehn- ſucht göttliche Wahrheiten zugeſtrömt. — Was hab ich? — ich habe Dich auf tauſend Fragen.
Hier in der tiefen Felsſchlucht denk ich ſo allerlei; — ich hab mich einen halsbrechenden Weg herunter ge- wagt, wie werd ich wieder hinauf kommen an dieſen glatten Felswänden an denen ich vergeblich die Spur ſuche wo ich herab geglitten bin. — Selbſtvertrauen iſt Vertrauen auf Gott, er wird mich doch nicht ſtecken laſ- ſen! — Ich lieg hier unter friſchen hohen Kräutern die mir die heiße Bruſt kühlen, viele kleine Würmchen und Spinnen klettern über mich hinaus, alles wimmelt ge- ſchäftig um mich her. Die Eidexen ſchlüpfen aus ihren feuchten Löchern und heben das Köpfchen und ſtaunen mich an mit ihren klugen Augen, und ſchlüpfen eilig zurück; ſie ſagen's einander daß ich da bin; — ich der Liebling des Dichters — es kommen immer mehr und gucken.
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nicht nach mir? — möchteſt Du nicht zuweilen bei
mir ſein? — Sehnſucht iſt ja doch die rechte Fährte, ſie
weckt ein höheres Leben, giebt helle Ahnung noch uner-
kannter Wahrheiten, vernichtet allen Zweifel, und iſt ſie
die ſicherſte Prophetin ſeines Glückes.
Dir ſind alle Reiche aufgethan, Natur, Wiſſen-
ſchaft und Kunſt, aus allen ſind den Fragen deiner Sehn-
ſucht göttliche Wahrheiten zugeſtrömt. — Was hab ich?
— ich habe Dich auf tauſend Fragen.
Hier in der tiefen Felsſchlucht denk ich ſo allerlei;
— ich hab mich einen halsbrechenden Weg herunter ge-
wagt, wie werd ich wieder hinauf kommen an dieſen
glatten Felswänden an denen ich vergeblich die Spur
ſuche wo ich herab geglitten bin. — Selbſtvertrauen iſt
Vertrauen auf Gott, er wird mich doch nicht ſtecken laſ-
ſen! — Ich lieg hier unter friſchen hohen Kräutern die
mir die heiße Bruſt kühlen, viele kleine Würmchen und
Spinnen klettern über mich hinaus, alles wimmelt ge-
ſchäftig um mich her. Die Eidexen ſchlüpfen aus ihren
feuchten Löchern und heben das Köpfchen und ſtaunen
mich an mit ihren klugen Augen, und ſchlüpfen eilig
zurück; ſie ſagen's einander daß ich da bin; — ich der
Liebling des Dichters — es kommen immer mehr und
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/218>, abgerufen am 24.11.2024.
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