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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

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in solcher Aufregung erzeugt sein Geist das Unbegreif-
liche und seine Finger leisten das Unmögliche. -- Seit-
dem kommt er alle Tage oder ich gehe zu ihm. Dar-
über versäume ich Gesellschaften, Gallerieen, Theater
und sogar den Stephansthurm. Beethoven sagt: "Ach,
was wollen Sie da sehen! ich werde Sie abholen, wir
gehen gegen Abend durch die Allee von Schönbrunn."
Gestern ging ich mit ihm in einen herrlichen Garten,
in voller Blüthe, alle Treibhäuser offen, der Duft war
betäubend; Beethoven blieb in der drückenden Sonnen-
hitze stehen und sagte: "Goethe's Gedichte behaupten
nicht allein durch den Inhalt, auch durch den Rhythmus
eine große Gewalt über mich, ich werde gestimmt und
aufgeregt zum Componiren durch diese Sprache, die wie
durch Geister zu höherer Ordnung sich aufbaut und das
Geheimniß der Harmonieen schon in sich trägt. Da
muß ich denn von dem Brennpunkt der Begeisterung
die Melodie nach allen Seiten hin ausladen, ich ver-
folge sie, hole sie mit Leidenschaft wieder ein, ich sehe
sie dahin fliehen, in der Masse verschiedener Aufregun-
gen verschwinden, bald erfasse ich sie mit erneuter Lei-
denschaft, ich kann mich nicht von ihr trennen, ich muß
mit raschem Entzücken in allen Modulationen sie ver-
vielfältigen, und im letzten Augenblick da triumphire

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in ſolcher Aufregung erzeugt ſein Geiſt das Unbegreif-
liche und ſeine Finger leiſten das Unmögliche. — Seit-
dem kommt er alle Tage oder ich gehe zu ihm. Dar-
über verſäume ich Geſellſchaften, Gallerieen, Theater
und ſogar den Stephansthurm. Beethoven ſagt: „Ach,
was wollen Sie da ſehen! ich werde Sie abholen, wir
gehen gegen Abend durch die Allee von Schönbrunn.“
Geſtern ging ich mit ihm in einen herrlichen Garten,
in voller Blüthe, alle Treibhäuſer offen, der Duft war
betäubend; Beethoven blieb in der drückenden Sonnen-
hitze ſtehen und ſagte: „Goethe's Gedichte behaupten
nicht allein durch den Inhalt, auch durch den Rhythmus
eine große Gewalt über mich, ich werde geſtimmt und
aufgeregt zum Componiren durch dieſe Sprache, die wie
durch Geiſter zu höherer Ordnung ſich aufbaut und das
Geheimniß der Harmonieen ſchon in ſich trägt. Da
muß ich denn von dem Brennpunkt der Begeiſterung
die Melodie nach allen Seiten hin ausladen, ich ver-
folge ſie, hole ſie mit Leidenſchaft wieder ein, ich ſehe
ſie dahin fliehen, in der Maſſe verſchiedener Aufregun-
gen verſchwinden, bald erfaſſe ich ſie mit erneuter Lei-
denſchaft, ich kann mich nicht von ihr trennen, ich muß
mit raſchem Entzücken in allen Modulationen ſie ver-
vielfältigen, und im letzten Augenblick da triumphire

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[195/0205] in ſolcher Aufregung erzeugt ſein Geiſt das Unbegreif- liche und ſeine Finger leiſten das Unmögliche. — Seit- dem kommt er alle Tage oder ich gehe zu ihm. Dar- über verſäume ich Geſellſchaften, Gallerieen, Theater und ſogar den Stephansthurm. Beethoven ſagt: „Ach, was wollen Sie da ſehen! ich werde Sie abholen, wir gehen gegen Abend durch die Allee von Schönbrunn.“ Geſtern ging ich mit ihm in einen herrlichen Garten, in voller Blüthe, alle Treibhäuſer offen, der Duft war betäubend; Beethoven blieb in der drückenden Sonnen- hitze ſtehen und ſagte: „Goethe's Gedichte behaupten nicht allein durch den Inhalt, auch durch den Rhythmus eine große Gewalt über mich, ich werde geſtimmt und aufgeregt zum Componiren durch dieſe Sprache, die wie durch Geiſter zu höherer Ordnung ſich aufbaut und das Geheimniß der Harmonieen ſchon in ſich trägt. Da muß ich denn von dem Brennpunkt der Begeiſterung die Melodie nach allen Seiten hin ausladen, ich ver- folge ſie, hole ſie mit Leidenſchaft wieder ein, ich ſehe ſie dahin fliehen, in der Maſſe verſchiedener Aufregun- gen verſchwinden, bald erfaſſe ich ſie mit erneuter Lei- denſchaft, ich kann mich nicht von ihr trennen, ich muß mit raſchem Entzücken in allen Modulationen ſie ver- vielfältigen, und im letzten Augenblick da triumphire 9*

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/205>, abgerufen am 23.11.2024.