liebenswürdiger, wenn Du, der Dichter, das nicht her- aus finden willst, für keinen andern bin ich geboren, bin ich nicht die Biene die hinausfliegt, aus jeder Blume Dir den Nektar heimbringt? -- und ein Kuß! meinst Du der sei gereift wie die Kirsche am Ast? -- nein ein Umschweben deiner geistigen Natur, ein Streben zu dei- nem Herzen, ein Sinnen über deine Schönheit strömt zusammen in Liebe; und so ist dieser Kuß ein tiefes unbegreifliches Einverständniß mit deiner unendlich ver- schiedensten Natur von mir. O versündige Dich nicht an mir, und mache Dir kein geschnitzeltes Bild das sel- bige anzubeten, während die Möglichkeit Dir zuhanden liegt ein wunderbares Band der Geisterwelt zwischen uns zu weben.
Wenn ich mein Netz aufzog, so willkührlich gewebt, so kühn ausgeworfen, im Gebiet des Unbekannten, ich brachte Dir den Fang, und was ich Dir auch bot, es war der Spiegel des menschlich Guten. Die Natur hat auch einen Geist und in jeder Menschenbrust emfindet dieser Geist die höheren Ereignisse des Glücks und des Unglücks, wie sollte der Mensch um sein selbst willen Seelig sein können, da Seeligkeit sich in allem empfin- det und keine Grenze kennt. So emfindet sich Natur, seelig im Geist des Menschen, das ist meine Liebe zu
liebenswürdiger, wenn Du, der Dichter, das nicht her- aus finden willſt, für keinen andern bin ich geboren, bin ich nicht die Biene die hinausfliegt, aus jeder Blume Dir den Nektar heimbringt? — und ein Kuß! meinſt Du der ſei gereift wie die Kirſche am Aſt? — nein ein Umſchweben deiner geiſtigen Natur, ein Streben zu dei- nem Herzen, ein Sinnen über deine Schönheit ſtrömt zuſammen in Liebe; und ſo iſt dieſer Kuß ein tiefes unbegreifliches Einverſtändniß mit deiner unendlich ver- ſchiedenſten Natur von mir. O verſündige Dich nicht an mir, und mache Dir kein geſchnitzeltes Bild das ſel- bige anzubeten, während die Möglichkeit Dir zuhanden liegt ein wunderbares Band der Geiſterwelt zwiſchen uns zu weben.
Wenn ich mein Netz aufzog, ſo willkührlich gewebt, ſo kühn ausgeworfen, im Gebiet des Unbekannten, ich brachte Dir den Fang, und was ich Dir auch bot, es war der Spiegel des menſchlich Guten. Die Natur hat auch einen Geiſt und in jeder Menſchenbruſt emfindet dieſer Geiſt die höheren Ereigniſſe des Glücks und des Unglücks, wie ſollte der Menſch um ſein ſelbſt willen Seelig ſein können, da Seeligkeit ſich in allem empfin- det und keine Grenze kennt. So emfindet ſich Natur, ſeelig im Geiſt des Menſchen, das iſt meine Liebe zu
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liebenswürdiger, wenn Du, der Dichter, das nicht her-
aus finden willſt, für keinen andern bin ich geboren,
bin ich nicht die Biene die hinausfliegt, aus jeder Blume
Dir den Nektar heimbringt? — und ein Kuß! meinſt
Du der ſei gereift wie die Kirſche am Aſt? — nein ein
Umſchweben deiner geiſtigen Natur, ein Streben zu dei-
nem Herzen, ein Sinnen über deine Schönheit ſtrömt
zuſammen in Liebe; und ſo iſt dieſer Kuß ein tiefes
unbegreifliches Einverſtändniß mit deiner unendlich ver-
ſchiedenſten Natur von mir. O verſündige Dich nicht
an mir, und mache Dir kein geſchnitzeltes Bild das ſel-
bige anzubeten, während die Möglichkeit Dir zuhanden
liegt ein wunderbares Band der Geiſterwelt zwiſchen
uns zu weben.
Wenn ich mein Netz aufzog, ſo willkührlich gewebt,
ſo kühn ausgeworfen, im Gebiet des Unbekannten, ich
brachte Dir den Fang, und was ich Dir auch bot, es
war der Spiegel des menſchlich Guten. Die Natur hat
auch einen Geiſt und in jeder Menſchenbruſt emfindet
dieſer Geiſt die höheren Ereigniſſe des Glücks und des
Unglücks, wie ſollte der Menſch um ſein ſelbſt willen
Seelig ſein können, da Seeligkeit ſich in allem empfin-
det und keine Grenze kennt. So emfindet ſich Natur,
ſeelig im Geiſt des Menſchen, das iſt meine Liebe zu
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/123>, abgerufen am 22.11.2024.
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