Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em-
pfangen wirst.

Erlaube mir, ja fordere es, daß ich dieselbe Luft
einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen
sehe, daß ich den Blick aufsuche, der mir die Todes-
götter bannt.

Goethe, Du bist alles, Du giebst wieder was die
Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver-
magst mit gelaßnen Blick reichlich zu spenden, warum
soll ich mit Zutrauen nicht begehren? Diese ganze Zeit
bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs-
ketten, die einzige Aussicht, die man von hier hat, wa-
ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich
habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden,
wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei-
heit eines selbstständigen Volkes sich selber entzündet
und in sich verlodert. Diese Menschen, die mit kaltem
Blut und sicher über ungeheure Klüfte schreiten, die den
Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen
zusehen, von ihrer Höhe herab schwindlich; es ist ein
Volk, das für den Morgen nicht sorgt, dem Gott un-
mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt,
auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den
Adlern gleich, auf den höchsten Felsspitzen über den Ne-

nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em-
pfangen wirſt.

Erlaube mir, ja fordere es, daß ich dieſelbe Luft
einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen
ſehe, daß ich den Blick aufſuche, der mir die Todes-
götter bannt.

Goethe, Du biſt alles, Du giebſt wieder was die
Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver-
magſt mit gelaßnen Blick reichlich zu ſpenden, warum
ſoll ich mit Zutrauen nicht begehren? Dieſe ganze Zeit
bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs-
ketten, die einzige Ausſicht, die man von hier hat, wa-
ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich
habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden,
wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei-
heit eines ſelbſtſtändigen Volkes ſich ſelber entzündet
und in ſich verlodert. Dieſe Menſchen, die mit kaltem
Blut und ſicher über ungeheure Klüfte ſchreiten, die den
Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen
zuſehen, von ihrer Höhe herab ſchwindlich; es iſt ein
Volk, das für den Morgen nicht ſorgt, dem Gott un-
mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt,
auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den
Adlern gleich, auf den höchſten Felsſpitzen über den Ne-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0102" n="92"/>
nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em-<lb/>
pfangen wir&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Erlaube mir, ja fordere es, daß ich die&#x017F;elbe Luft<lb/>
einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen<lb/>
&#x017F;ehe, daß ich den Blick auf&#x017F;uche, der mir die Todes-<lb/>
götter bannt.</p><lb/>
          <p>Goethe, Du bi&#x017F;t alles, Du gieb&#x017F;t wieder was die<lb/>
Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver-<lb/>
mag&#x017F;t mit gelaßnen Blick reichlich zu &#x017F;penden, warum<lb/>
&#x017F;oll <hi rendition="#g">ich</hi> mit Zutrauen nicht begehren? Die&#x017F;e ganze Zeit<lb/>
bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs-<lb/>
ketten, die einzige Aus&#x017F;icht, die man von hier hat, wa-<lb/>
ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich<lb/>
habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden,<lb/>
wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei-<lb/>
heit eines &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändigen Volkes &#x017F;ich &#x017F;elber entzündet<lb/>
und in &#x017F;ich verlodert. Die&#x017F;e Men&#x017F;chen, die mit kaltem<lb/>
Blut und &#x017F;icher über ungeheure Klüfte &#x017F;chreiten, die den<lb/>
Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen<lb/>
zu&#x017F;ehen, von <hi rendition="#g">ihrer</hi> Höhe herab &#x017F;chwindlich; es i&#x017F;t ein<lb/>
Volk, das für den Morgen nicht &#x017F;orgt, dem Gott un-<lb/>
mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt,<lb/>
auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den<lb/>
Adlern gleich, auf den höch&#x017F;ten Fels&#x017F;pitzen über den Ne-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0102] nen Lippen, daß Du mich noch mit offnen Armen em- pfangen wirſt. Erlaube mir, ja fordere es, daß ich dieſelbe Luft einathme wie Du, daß ich täglich Dir unter die Augen ſehe, daß ich den Blick aufſuche, der mir die Todes- götter bannt. Goethe, Du biſt alles, Du giebſt wieder was die Welt, was die traurige Zeit raubt; da Du es nun ver- magſt mit gelaßnen Blick reichlich zu ſpenden, warum ſoll ich mit Zutrauen nicht begehren? Dieſe ganze Zeit bin ich nicht mehr in's Freie gekommen, die Gebirgs- ketten, die einzige Ausſicht, die man von hier hat, wa- ren oft von den Flammen des Kriegs geröthet, und ich habe nie mehr gewagt meinen Blick dahin zu wenden, wo der Teufel ein Lamm würgt, wo die einzige Frei- heit eines ſelbſtſtändigen Volkes ſich ſelber entzündet und in ſich verlodert. Dieſe Menſchen, die mit kaltem Blut und ſicher über ungeheure Klüfte ſchreiten, die den Schwindel nicht kennen, machen alle andere, die ihnen zuſehen, von ihrer Höhe herab ſchwindlich; es iſt ein Volk, das für den Morgen nicht ſorgt, dem Gott un- mittelbar grade, wenn die Stunde des Hungers kommt, auch die Nahrung in die Hand giebt; das, wie es den Adlern gleich, auf den höchſten Felsſpitzen über den Ne-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/102
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/102>, abgerufen am 22.11.2024.