stiller, stiller Rhein! Noch gestern Abend war alles so herrlich; aus der dunklen Mitternacht trat mir eine große Welt entgegen. Als ich von meinem Bett auf- stand in die kühle Nachtluft am Fenster, da war der Mond schon eine halbe Stunde aufgegangen und hatte die Welten alle unter sich getrieben; er warf einen frucht- baren Schein über die Weinberge; -- ich nahm das volle Laub des Weinstocks, der an meinem Fenster hin- aufwächst, im Arm und nahm Abschied von ihm; kei- nem Lebendigen hätte ich den Augenblick dieser Liebe gegönnt; wär' ich bei Dir gewesen, -- ich hätte geschmei- chelt, gebeten und geküßt.
Schlangenbad, 17. August.
Nur das sei mir gegönnt! -- und ach, es wird mir nicht leicht, es auszusprechen, was ich will, wenn mich manchmal der Athem drückt, daß ich laut schreien möchte.
Es überfliegt mich zuweilen in diesen engbegränzten Gegenden, wo die Berge übereinander klettern und den Nebel tragen, und in den tiefen kühlen Thälern die Einsamkeit gefangen halten, ein Jauchzen, das wie ein
ſtiller, ſtiller Rhein! Noch geſtern Abend war alles ſo herrlich; aus der dunklen Mitternacht trat mir eine große Welt entgegen. Als ich von meinem Bett auf- ſtand in die kühle Nachtluft am Fenſter, da war der Mond ſchon eine halbe Stunde aufgegangen und hatte die Welten alle unter ſich getrieben; er warf einen frucht- baren Schein über die Weinberge; — ich nahm das volle Laub des Weinſtocks, der an meinem Fenſter hin- aufwächſt, im Arm und nahm Abſchied von ihm; kei- nem Lebendigen hätte ich den Augenblick dieſer Liebe gegönnt; wär' ich bei Dir geweſen, — ich hätte geſchmei- chelt, gebeten und geküßt.
Schlangenbad, 17. Auguſt.
Nur das ſei mir gegönnt! — und ach, es wird mir nicht leicht, es auszuſprechen, was ich will, wenn mich manchmal der Athem drückt, daß ich laut ſchreien möchte.
Es überfliegt mich zuweilen in dieſen engbegränzten Gegenden, wo die Berge übereinander klettern und den Nebel tragen, und in den tiefen kühlen Thälern die Einſamkeit gefangen halten, ein Jauchzen, das wie ein
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0374"n="342"/>ſtiller, ſtiller Rhein! Noch geſtern Abend war alles ſo<lb/>
herrlich; aus der dunklen Mitternacht trat mir eine<lb/>
große Welt entgegen. Als ich von meinem Bett auf-<lb/>ſtand in die kühle Nachtluft am Fenſter, da war der<lb/>
Mond ſchon eine halbe Stunde aufgegangen und hatte<lb/>
die Welten alle unter ſich getrieben; er warf einen frucht-<lb/>
baren Schein über die Weinberge; — ich nahm das<lb/>
volle Laub des Weinſtocks, der an meinem Fenſter hin-<lb/>
aufwächſt, im Arm und nahm Abſchied von ihm; kei-<lb/>
nem Lebendigen hätte ich den Augenblick dieſer Liebe<lb/>
gegönnt; wär' ich bei Dir geweſen, — ich hätte geſchmei-<lb/>
chelt, gebeten und geküßt.</p></div><lb/><divn="2"><dateline><hirendition="#et">Schlangenbad, 17. Auguſt.</hi></dateline><lb/><p>Nur das ſei mir gegönnt! — und ach, es wird<lb/>
mir nicht leicht, es auszuſprechen, was ich will, wenn<lb/>
mich manchmal der Athem drückt, daß ich laut ſchreien<lb/>
möchte.</p><lb/><p>Es überfliegt mich zuweilen in dieſen engbegränzten<lb/>
Gegenden, wo die Berge übereinander klettern und den<lb/>
Nebel tragen, und in den tiefen kühlen Thälern die<lb/>
Einſamkeit gefangen halten, ein Jauchzen, das wie ein<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[342/0374]
ſtiller, ſtiller Rhein! Noch geſtern Abend war alles ſo
herrlich; aus der dunklen Mitternacht trat mir eine
große Welt entgegen. Als ich von meinem Bett auf-
ſtand in die kühle Nachtluft am Fenſter, da war der
Mond ſchon eine halbe Stunde aufgegangen und hatte
die Welten alle unter ſich getrieben; er warf einen frucht-
baren Schein über die Weinberge; — ich nahm das
volle Laub des Weinſtocks, der an meinem Fenſter hin-
aufwächſt, im Arm und nahm Abſchied von ihm; kei-
nem Lebendigen hätte ich den Augenblick dieſer Liebe
gegönnt; wär' ich bei Dir geweſen, — ich hätte geſchmei-
chelt, gebeten und geküßt.
Schlangenbad, 17. Auguſt.
Nur das ſei mir gegönnt! — und ach, es wird
mir nicht leicht, es auszuſprechen, was ich will, wenn
mich manchmal der Athem drückt, daß ich laut ſchreien
möchte.
Es überfliegt mich zuweilen in dieſen engbegränzten
Gegenden, wo die Berge übereinander klettern und den
Nebel tragen, und in den tiefen kühlen Thälern die
Einſamkeit gefangen halten, ein Jauchzen, das wie ein
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/374>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.