in tiefer Nacht allein, da hörte ich den Wind ganz von weitem herankommen; -- er nahm zu in rascher Eile, je näher er kam, und dann, grade zu meinen Füßen senkte er die Flügel sanft, ohne nur den Mantel zu be- rühren, kaum daß er mich anhauchte, mußte ich da nicht glauben, er sei blos gesendet, um mich zu grüßen? -- Du weißt es doch, Goethe, Seufzer sind Boten; Du säßest allein am offnen Fenster, am späten Abend, und dächtest und fühltest die letzte Begeisterung für die letzte Geliebte in deinem Blut wallen; -- dann unwillkührlich stößt Du den Seufzer aus, -- der macht sich augen- blicklich auf den Weg und jagt, -- Du kannst ihn nicht zurückrufen.
Irrende Seufzer nennt man, die aus unruhiger Brust aus verwirrtem Denken und Wünschen entsprin- gen; aber ein solcher Seufzer aus mächtiger Brust, wo die Gedanken, in schöner Wendung sich verschränkend, auf hohen Kothurnen die Thaugebadeten Füße in hei- ligem Takte bewegen, von schwebender Muse geleitet; -- ein solcher Seufzer, der deinen Liedern die Brust entriegelt, -- der schwingt sich als Herold vor ihnen her, und meine Seufzer, lieber Freund! -- zu tausen- den umdrängen sie ihn.
Heute Nacht nun hab' ich mich grausam gefürchtet.
in tiefer Nacht allein, da hörte ich den Wind ganz von weitem herankommen; — er nahm zu in raſcher Eile, je näher er kam, und dann, grade zu meinen Füßen ſenkte er die Flügel ſanft, ohne nur den Mantel zu be- rühren, kaum daß er mich anhauchte, mußte ich da nicht glauben, er ſei blos geſendet, um mich zu grüßen? — Du weißt es doch, Goethe, Seufzer ſind Boten; Du ſäßeſt allein am offnen Fenſter, am ſpäten Abend, und dächteſt und fühlteſt die letzte Begeiſterung für die letzte Geliebte in deinem Blut wallen; — dann unwillkührlich ſtößt Du den Seufzer aus, — der macht ſich augen- blicklich auf den Weg und jagt, — Du kannſt ihn nicht zurückrufen.
Irrende Seufzer nennt man, die aus unruhiger Bruſt aus verwirrtem Denken und Wünſchen entſprin- gen; aber ein ſolcher Seufzer aus mächtiger Bruſt, wo die Gedanken, in ſchöner Wendung ſich verſchränkend, auf hohen Kothurnen die Thaugebadeten Füße in hei- ligem Takte bewegen, von ſchwebender Muſe geleitet; — ein ſolcher Seufzer, der deinen Liedern die Bruſt entriegelt, — der ſchwingt ſich als Herold vor ihnen her, und meine Seufzer, lieber Freund! — zu tauſen- den umdrängen ſie ihn.
Heute Nacht nun hab' ich mich grauſam gefürchtet.
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in tiefer Nacht allein, da hörte ich den Wind ganz von
weitem herankommen; — er nahm zu in raſcher Eile,
je näher er kam, und dann, grade zu meinen Füßen
ſenkte er die Flügel ſanft, ohne nur den Mantel zu be-
rühren, kaum daß er mich anhauchte, mußte ich da nicht
glauben, er ſei blos geſendet, um mich zu grüßen? —
Du weißt es doch, Goethe, Seufzer ſind Boten; Du
ſäßeſt allein am offnen Fenſter, am ſpäten Abend, und
dächteſt und fühlteſt die letzte Begeiſterung für die letzte
Geliebte in deinem Blut wallen; — dann unwillkührlich
ſtößt Du den Seufzer aus, — der macht ſich augen-
blicklich auf den Weg und jagt, — Du kannſt ihn nicht
zurückrufen.
Irrende Seufzer nennt man, die aus unruhiger
Bruſt aus verwirrtem Denken und Wünſchen entſprin-
gen; aber ein ſolcher Seufzer aus mächtiger Bruſt, wo
die Gedanken, in ſchöner Wendung ſich verſchränkend,
auf hohen Kothurnen die Thaugebadeten Füße in hei-
ligem Takte bewegen, von ſchwebender Muſe geleitet;
— ein ſolcher Seufzer, der deinen Liedern die Bruſt
entriegelt, — der ſchwingt ſich als Herold vor ihnen
her, und meine Seufzer, lieber Freund! — zu tauſen-
den umdrängen ſie ihn.
Heute Nacht nun hab' ich mich grauſam gefürchtet.
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/294>, abgerufen am 22.11.2024.
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