Da ich noch an deinem Arm durch die Straßen ging: Ach, wie eine geraume Zeit dünkt mir's, da war ich zu- frieden, alle Wünsche waren schlafen gegangen, hatten wie die Berge, Gestalt und Farbe, in Nebel eingehüllt; ich dachte, so ging es, und weiter, ohne große Müh- seeligkeit vom Land' in die hohe See, kühn und stolz, mit gelös'ten Flaggen und frischem Wind. -- Aber Goe- the, feurige Jugend will die Sitten der heißen Jahres- zeit, wenn die Abendschatten sich über's Land ziehen, dann sollen die Nachtigallen nicht schweigen: singen soll alles, oder sich freudig aussprechen; die Welt soll ein üppiger Fruchtkranz sein, alles soll sich drängen im Ge- nuß, und aller Genuß soll sich mächtig ausbreiten, er soll sich ergießen wie gährender Most, der brausend ar-
Wenn ich den blauen Umschlag dann erblickte; Neugierig schnell, wie es gezi mt dem Weibe, Riss' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe; Da läs' ich was mich mündlich sonst entzückte:
Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen! Wie du so freundlich meine Sehnsucht stilltest Mit süßem Wort und mich so ganz verwöhntest.
Sogar dein Lispeln glaubt' ich auch zu lesen, Womit du liebend meine Seele fülltest Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest.
(Goethes Werke 2ter Band Seite 12.)
Da ich noch an deinem Arm durch die Straßen ging: Ach, wie eine geraume Zeit dünkt mir's, da war ich zu- frieden, alle Wünſche waren ſchlafen gegangen, hatten wie die Berge, Geſtalt und Farbe, in Nebel eingehüllt; ich dachte, ſo ging es, und weiter, ohne große Müh- ſeeligkeit vom Land' in die hohe See, kühn und ſtolz, mit gelöſ'ten Flaggen und friſchem Wind. — Aber Goe- the, feurige Jugend will die Sitten der heißen Jahres- zeit, wenn die Abendſchatten ſich über's Land ziehen, dann ſollen die Nachtigallen nicht ſchweigen: ſingen ſoll alles, oder ſich freudig ausſprechen; die Welt ſoll ein üppiger Fruchtkranz ſein, alles ſoll ſich drängen im Ge- nuß, und aller Genuß ſoll ſich mächtig ausbreiten, er ſoll ſich ergießen wie gährender Moſt, der brauſend ar-
Wenn ich den blauen Umſchlag dann erblickte; Neugierig ſchnell, wie es gezi mt dem Weibe, Riſſ' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe; Da läſ' ich was mich mündlich ſonſt entzückte:
Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Weſen! Wie du ſo freundlich meine Sehnſucht ſtillteſt Mit ſüßem Wort und mich ſo ganz verwöhnteſt.
Sogar dein Liſpeln glaubt' ich auch zu leſen, Womit du liebend meine Seele füllteſt Und mich auf ewig vor mir ſelbſt verſchönteſt.
(Goethes Werke 2ter Band Seite 12.)
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Da ich noch an deinem Arm durch die Straßen ging:
Ach, wie eine geraume Zeit dünkt mir's, da war ich zu-
frieden, alle Wünſche waren ſchlafen gegangen, hatten
wie die Berge, Geſtalt und Farbe, in Nebel eingehüllt;
ich dachte, ſo ging es, und weiter, ohne große Müh-
ſeeligkeit vom Land' in die hohe See, kühn und ſtolz,
mit gelöſ'ten Flaggen und friſchem Wind. — Aber Goe-
the, feurige Jugend will die Sitten der heißen Jahres-
zeit, wenn die Abendſchatten ſich über's Land ziehen,
dann ſollen die Nachtigallen nicht ſchweigen: ſingen ſoll
alles, oder ſich freudig ausſprechen; die Welt ſoll ein
üppiger Fruchtkranz ſein, alles ſoll ſich drängen im Ge-
nuß, und aller Genuß ſoll ſich mächtig ausbreiten, er
ſoll ſich ergießen wie gährender Moſt, der brauſend ar-
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*) Wenn ich den blauen Umſchlag dann erblickte;
Neugierig ſchnell, wie es gezi mt dem Weibe,
Riſſ' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe;
Da läſ' ich was mich mündlich ſonſt entzückte:
Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Weſen!
Wie du ſo freundlich meine Sehnſucht ſtillteſt
Mit ſüßem Wort und mich ſo ganz verwöhnteſt.
Sogar dein Liſpeln glaubt' ich auch zu leſen,
Womit du liebend meine Seele füllteſt
Und mich auf ewig vor mir ſelbſt verſchönteſt.
(Goethes Werke 2ter Band Seite 12.)
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/223>, abgerufen am 16.02.2025.
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