der Stamm noch zusammen; ich sah hinauf zu dem Gipfel des stehenden Baumes, der nun sein halbes Le- ben am Boden hinschleifen muß, und im Herbst stirbt er ihm ab. Lieber Goethe, hätte ich meine Hütte dort in der einsamen Thalschlucht, und ich wär' gewöhnt, auf Dich zu warten, welch großes Ereigniß wär' dieses; wie würd' ich Dir entgegen springen und von weitem schon zurufen: "Denk' nur unsere Linde!" -- Und so ist es auch: ich bin eingeschlossen in meiner Liebe, wie in einsamer Hütte, und mein Leben ist ein Harren auf Dich unter der Linde; wo Erinnerung und Gegenwart duftet, und die Sehnsucht die Zukunft herbeilockt. Ach, lieber Wolfgang, wenn der grausame Sturm die Linde spaltet, und die üppigere stärkere Hälfte mit allem inne wohnenden Leben zu Boden stürzt, und ihr grü- nes Laub, über bösem Geschick, wie über stürzenden Bergwassern, traurend welkt, und die junge Brut in ihren Ästen verdirbt; o dann denk' daß die eine Hälfte noch steht, und in ihr alle Erinnerung und alles Leben, was dieser entsprießt, zum Himmel getragen wird.
Adieu! Jetzt geht's weiter; morgen bin ich Dir nicht so nah, daß ein Brief, den ich früh geschrieben, Dir spät die Zeit vertreibt. -- Ach lasse sie Dir vertrei- ben als wenn ich selbst bei Dir wär: zärtlich!
der Stamm noch zuſammen; ich ſah hinauf zu dem Gipfel des ſtehenden Baumes, der nun ſein halbes Le- ben am Boden hinſchleifen muß, und im Herbſt ſtirbt er ihm ab. Lieber Goethe, hätte ich meine Hütte dort in der einſamen Thalſchlucht, und ich wär' gewöhnt, auf Dich zu warten, welch großes Ereigniß wär' dieſes; wie würd' ich Dir entgegen ſpringen und von weitem ſchon zurufen: „Denk' nur unſere Linde!“ — Und ſo iſt es auch: ich bin eingeſchloſſen in meiner Liebe, wie in einſamer Hütte, und mein Leben iſt ein Harren auf Dich unter der Linde; wo Erinnerung und Gegenwart duftet, und die Sehnſucht die Zukunft herbeilockt. Ach, lieber Wolfgang, wenn der grauſame Sturm die Linde ſpaltet, und die üppigere ſtärkere Hälfte mit allem inne wohnenden Leben zu Boden ſtürzt, und ihr grü- nes Laub, über böſem Geſchick, wie über ſtürzenden Bergwaſſern, traurend welkt, und die junge Brut in ihren Äſten verdirbt; o dann denk' daß die eine Hälfte noch ſteht, und in ihr alle Erinnerung und alles Leben, was dieſer entſprießt, zum Himmel getragen wird.
Adieu! Jetzt geht's weiter; morgen bin ich Dir nicht ſo nah, daß ein Brief, den ich früh geſchrieben, Dir ſpät die Zeit vertreibt. — Ach laſſe ſie Dir vertrei- ben als wenn ich ſelbſt bei Dir wär: zärtlich!
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der Stamm noch zuſammen; ich ſah hinauf zu dem
Gipfel des ſtehenden Baumes, der nun ſein halbes Le-
ben am Boden hinſchleifen muß, und im Herbſt ſtirbt
er ihm ab. Lieber Goethe, hätte ich meine Hütte dort
in der einſamen Thalſchlucht, und ich wär' gewöhnt,
auf Dich zu warten, welch großes Ereigniß wär' dieſes;
wie würd' ich Dir entgegen ſpringen und von weitem
ſchon zurufen: „Denk' nur unſere Linde!“ — Und ſo
iſt es auch: ich bin eingeſchloſſen in meiner Liebe, wie
in einſamer Hütte, und mein Leben iſt ein Harren auf
Dich unter der Linde; wo Erinnerung und Gegenwart
duftet, und die Sehnſucht die Zukunft herbeilockt. Ach,
lieber Wolfgang, wenn der grauſame Sturm die Linde
ſpaltet, und die üppigere ſtärkere Hälfte mit allem
inne wohnenden Leben zu Boden ſtürzt, und ihr grü-
nes Laub, über böſem Geſchick, wie über ſtürzenden
Bergwaſſern, traurend welkt, und die junge Brut in
ihren Äſten verdirbt; o dann denk' daß die eine Hälfte
noch ſteht, und in ihr alle Erinnerung und alles Leben,
was dieſer entſprießt, zum Himmel getragen wird.
Adieu! Jetzt geht's weiter; morgen bin ich Dir
nicht ſo nah, daß ein Brief, den ich früh geſchrieben,
Dir ſpät die Zeit vertreibt. — Ach laſſe ſie Dir vertrei-
ben als wenn ich ſelbſt bei Dir wär: zärtlich!
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/184>, abgerufen am 22.11.2024.
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