bei dem ich Dir geschrieben habe. -- Meine Fenster wa- ren offen, und die Pläne waren nieder gelassen; der Sturmwind spielte mit ihnen; -- es kam ein heftiger Gewitterregen, da ward mein kleiner Kanarienvogel auf- gestört -- er flog hinaus in den Sturm, er schrie nach mir, und ich lockte ihn die ganze Nacht. Erst wie das Wetter vorüber war legt' ich mich schlafen; ich war müde und sehr traurig, auch um meinen lieben Vogel. Wie ich noch bei der Günderode die Griechische Ge- schichte studirte, da zeichnete ich Landkarten, und wenn ich die Seen zeichnete, da half er Striche hinein machen, daß ich ganz verwundert war, wie emsig er mit seinem kleinen Schnabel immer hin und her kratzte.
Nun ist er fort, gewiß hat ihm der Sturm das Leben gekostet; da hab' ich gedacht, wenn ich nun hin- ausflög', um Dich zu suchen, und käm' durch Sturm und Unwetter bis zu Deiner Thür, die Du mir nicht öffnen würdest, -- nein Du wärst fort; Du hättest nicht auf mich gewartet, wie ich die ganze Nacht auf meinen kleinen Vogel; Du gehest andern Menschen nach, Du bewegst Dich in andern Regionen; bald sind's die Sterne, die mit Dir Rücksprache halten, bald die tiefen abgründ- lichen Felskerne; bald schreitet dein Blick als Prophet durch Nebel und Luftschichten, und dann nimmst Du
bei dem ich Dir geſchrieben habe. — Meine Fenſter wa- ren offen, und die Pläne waren nieder gelaſſen; der Sturmwind ſpielte mit ihnen; — es kam ein heftiger Gewitterregen, da ward mein kleiner Kanarienvogel auf- geſtört — er flog hinaus in den Sturm, er ſchrie nach mir, und ich lockte ihn die ganze Nacht. Erſt wie das Wetter vorüber war legt' ich mich ſchlafen; ich war müde und ſehr traurig, auch um meinen lieben Vogel. Wie ich noch bei der Günderode die Griechiſche Ge- ſchichte ſtudirte, da zeichnete ich Landkarten, und wenn ich die Seen zeichnete, da half er Striche hinein machen, daß ich ganz verwundert war, wie emſig er mit ſeinem kleinen Schnabel immer hin und her kratzte.
Nun iſt er fort, gewiß hat ihm der Sturm das Leben gekoſtet; da hab' ich gedacht, wenn ich nun hin- ausflög', um Dich zu ſuchen, und käm' durch Sturm und Unwetter bis zu Deiner Thür, die Du mir nicht öffnen würdeſt, — nein Du wärſt fort; Du hätteſt nicht auf mich gewartet, wie ich die ganze Nacht auf meinen kleinen Vogel; Du geheſt andern Menſchen nach, Du bewegſt Dich in andern Regionen; bald ſind's die Sterne, die mit Dir Rückſprache halten, bald die tiefen abgründ- lichen Felskerne; bald ſchreitet dein Blick als Prophet durch Nebel und Luftſchichten, und dann nimmſt Du
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bei dem ich Dir geſchrieben habe. — Meine Fenſter wa-
ren offen, und die Pläne waren nieder gelaſſen; der
Sturmwind ſpielte mit ihnen; — es kam ein heftiger
Gewitterregen, da ward mein kleiner Kanarienvogel auf-
geſtört — er flog hinaus in den Sturm, er ſchrie nach
mir, und ich lockte ihn die ganze Nacht. Erſt wie das
Wetter vorüber war legt' ich mich ſchlafen; ich war
müde und ſehr traurig, auch um meinen lieben Vogel.
Wie ich noch bei der Günderode die Griechiſche Ge-
ſchichte ſtudirte, da zeichnete ich Landkarten, und wenn
ich die Seen zeichnete, da half er Striche hinein machen,
daß ich ganz verwundert war, wie emſig er mit ſeinem
kleinen Schnabel immer hin und her kratzte.
Nun iſt er fort, gewiß hat ihm der Sturm das
Leben gekoſtet; da hab' ich gedacht, wenn ich nun hin-
ausflög', um Dich zu ſuchen, und käm' durch Sturm
und Unwetter bis zu Deiner Thür, die Du mir nicht
öffnen würdeſt, — nein Du wärſt fort; Du hätteſt nicht
auf mich gewartet, wie ich die ganze Nacht auf meinen
kleinen Vogel; Du geheſt andern Menſchen nach, Du
bewegſt Dich in andern Regionen; bald ſind's die Sterne,
die mit Dir Rückſprache halten, bald die tiefen abgründ-
lichen Felskerne; bald ſchreitet dein Blick als Prophet
durch Nebel und Luftſchichten, und dann nimmſt Du
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/166>, abgerufen am 24.11.2024.
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