ist, dann wirst Du Dich der Begeistrung freuen, wie der Tänzer sich der Musik freut.
Mit solchen wunderbaren Lehren hat die Günde- rode die Unmündigkeit meines Geistes genährt. Ich war damals bei der Großmutter in Offenbach, um auf vier Wochen wegen meiner schwankenden Gesundheit die Landluft zu genießen; auf welche Weise berührten mich denn solche Briefe? -- verstand ich ihren In- halt? -- hatte ich einen Begriff von dem, was ich ge- schrieben hatte? Nein; ich wußte mir so wenig den Text meiner schriftlichen Begeistrungen auszulegen, als sich der Componist den Text seiner Erfindungen begreif- lich machen kann; er wirft sich in ein Element, was höher ist als er; es trägt ihn, es nährt ihn, seine Nah- rung wird Inspiration, sie reizt, sie beglückt, ohne daß man sie sinnlich auszulegen vermöchte, obschon die Fä- higkeiten durch sie gesteigert, der Geist gereinigt, die Seele gerührt wird. So war es auch zwischen mir und der Freundin: die Melodieen entströmten meiner gereizten Phantasie, sie lauschte und fühlte unendlichen Genuß dabei, und bewahrte, was, wenn es mir geblie- ben wär', nur störend auf mich gewirkt haben würde; -- sie nannte mich oft die Sibylle, die ihre Weissagungen nicht bewahren dürfe; ihre Aufforderungen reizten mich,
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iſt, dann wirſt Du Dich der Begeiſtrung freuen, wie der Tänzer ſich der Muſik freut.
Mit ſolchen wunderbaren Lehren hat die Günde- rode die Unmündigkeit meines Geiſtes genährt. Ich war damals bei der Großmutter in Offenbach, um auf vier Wochen wegen meiner ſchwankenden Geſundheit die Landluft zu genießen; auf welche Weiſe berührten mich denn ſolche Briefe? — verſtand ich ihren In- halt? — hatte ich einen Begriff von dem, was ich ge- ſchrieben hatte? Nein; ich wußte mir ſo wenig den Text meiner ſchriftlichen Begeiſtrungen auszulegen, als ſich der Componiſt den Text ſeiner Erfindungen begreif- lich machen kann; er wirft ſich in ein Element, was höher iſt als er; es trägt ihn, es nährt ihn, ſeine Nah- rung wird Inſpiration, ſie reizt, ſie beglückt, ohne daß man ſie ſinnlich auszulegen vermöchte, obſchon die Fä- higkeiten durch ſie geſteigert, der Geiſt gereinigt, die Seele gerührt wird. So war es auch zwiſchen mir und der Freundin: die Melodieen entſtrömten meiner gereizten Phantaſie, ſie lauſchte und fühlte unendlichen Genuß dabei, und bewahrte, was, wenn es mir geblie- ben wär', nur ſtörend auf mich gewirkt haben würde; — ſie nannte mich oft die Sibylle, die ihre Weiſſagungen nicht bewahren dürfe; ihre Aufforderungen reizten mich,
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iſt, dann wirſt Du Dich der Begeiſtrung freuen, wie
der Tänzer ſich der Muſik freut.
Mit ſolchen wunderbaren Lehren hat die Günde-
rode die Unmündigkeit meines Geiſtes genährt. Ich
war damals bei der Großmutter in Offenbach, um auf
vier Wochen wegen meiner ſchwankenden Geſundheit
die Landluft zu genießen; auf welche Weiſe berührten
mich denn ſolche Briefe? — verſtand ich ihren In-
halt? — hatte ich einen Begriff von dem, was ich ge-
ſchrieben hatte? Nein; ich wußte mir ſo wenig den
Text meiner ſchriftlichen Begeiſtrungen auszulegen, als
ſich der Componiſt den Text ſeiner Erfindungen begreif-
lich machen kann; er wirft ſich in ein Element, was
höher iſt als er; es trägt ihn, es nährt ihn, ſeine Nah-
rung wird Inſpiration, ſie reizt, ſie beglückt, ohne daß
man ſie ſinnlich auszulegen vermöchte, obſchon die Fä-
higkeiten durch ſie geſteigert, der Geiſt gereinigt, die
Seele gerührt wird. So war es auch zwiſchen mir
und der Freundin: die Melodieen entſtrömten meiner
gereizten Phantaſie, ſie lauſchte und fühlte unendlichen
Genuß dabei, und bewahrte, was, wenn es mir geblie-
ben wär', nur ſtörend auf mich gewirkt haben würde; —
ſie nannte mich oft die Sibylle, die ihre Weiſſagungen
nicht bewahren dürfe; ihre Aufforderungen reizten mich,
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/113>, abgerufen am 22.11.2024.
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