Über die Günderode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben, ich bin nicht so empfindlich; aber ich bin hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenstand ab, um ihn ganz zu übersehen; -- gestern war ich da unten, wo sie lag; die Weiden sind so gewachsen, daß sie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir so dachte, wie sie voll Verzweiflung hier herlief, und so rasch das gewaltige Messer sich in die Brust stieß, und wie das Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die so nah mit ihr stand, jetzt an demselben Ort, gehe hin und her an demselben Ufer, in süßem Überlegen meines Glückes, und alles und das Geringste was mir begegnet, scheint mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö- ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord- nen und den einfachen Faden unseres Freundelebens, von dem ich doch nur alles anspinnen könnte, zu ver- folgen. -- Nein, es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte, daß sie die schöne Erde verlassen hat; sie hätt' noch lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat und mit dem Menschen verkehrt, und sich seiner und seines Geschickes annimmt, und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umwehen; ja, sie hat's bös' mit mir gemacht, sie ist mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr
4*
Über die Günderode iſt mir am Rhein unmöglich zu ſchreiben, ich bin nicht ſo empfindlich; aber ich bin hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenſtand ab, um ihn ganz zu überſehen; — geſtern war ich da unten, wo ſie lag; die Weiden ſind ſo gewachſen, daß ſie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir ſo dachte, wie ſie voll Verzweiflung hier herlief, und ſo raſch das gewaltige Meſſer ſich in die Bruſt ſtieß, und wie das Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die ſo nah mit ihr ſtand, jetzt an demſelben Ort, gehe hin und her an demſelben Ufer, in ſüßem Überlegen meines Glückes, und alles und das Geringſte was mir begegnet, ſcheint mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö- ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord- nen und den einfachen Faden unſeres Freundelebens, von dem ich doch nur alles anſpinnen könnte, zu ver- folgen. — Nein, es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte, daß ſie die ſchöne Erde verlaſſen hat; ſie hätt' noch lernen müſſen, daß die Natur Geiſt und Seele hat und mit dem Menſchen verkehrt, und ſich ſeiner und ſeines Geſchickes annimmt, und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umwehen; ja, ſie hat's böſ' mit mir gemacht, ſie iſt mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr
4*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0107"n="75"/><p>Über die Günderode iſt mir am Rhein unmöglich<lb/>
zu ſchreiben, ich bin nicht ſo empfindlich; aber ich bin<lb/>
hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenſtand<lb/>
ab, um ihn ganz zu überſehen; — geſtern war ich da<lb/>
unten, wo ſie lag; die Weiden ſind ſo gewachſen, daß<lb/>ſie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir ſo dachte,<lb/>
wie ſie voll Verzweiflung hier herlief, und ſo raſch das<lb/>
gewaltige Meſſer ſich in die Bruſt ſtieß, und wie das<lb/>
Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die ſo nah<lb/>
mit ihr ſtand, jetzt an demſelben Ort, gehe hin und her<lb/>
an demſelben Ufer, in ſüßem Überlegen meines Glückes,<lb/>
und alles und das Geringſte was mir begegnet, ſcheint<lb/>
mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö-<lb/>
ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord-<lb/>
nen und den einfachen Faden unſeres Freundelebens,<lb/>
von dem ich doch nur alles anſpinnen könnte, zu ver-<lb/>
folgen. — Nein, es kränkt mich und ich mache ihr<lb/>
Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte,<lb/>
daß ſie die ſchöne Erde verlaſſen hat; ſie hätt' noch<lb/>
lernen müſſen, daß die Natur Geiſt und Seele hat<lb/>
und mit dem Menſchen verkehrt, und ſich ſeiner und<lb/>ſeines Geſchickes annimmt, und daß Lebensverheißungen<lb/>
in den Lüften uns umwehen; ja, ſie hat's böſ' mit mir<lb/>
gemacht, ſie iſt mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr<lb/><fwplace="bottom"type="sig">4*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[75/0107]
Über die Günderode iſt mir am Rhein unmöglich
zu ſchreiben, ich bin nicht ſo empfindlich; aber ich bin
hier am Platz nicht weit genug von dem Gegenſtand
ab, um ihn ganz zu überſehen; — geſtern war ich da
unten, wo ſie lag; die Weiden ſind ſo gewachſen, daß
ſie den Ort ganz zudecken, und wie ich mir ſo dachte,
wie ſie voll Verzweiflung hier herlief, und ſo raſch das
gewaltige Meſſer ſich in die Bruſt ſtieß, und wie das
Tage lang in ihr gekocht hatte, und ich, die ſo nah
mit ihr ſtand, jetzt an demſelben Ort, gehe hin und her
an demſelben Ufer, in ſüßem Überlegen meines Glückes,
und alles und das Geringſte was mir begegnet, ſcheint
mir, mit zu dem Reichthum meiner Seeligkeit zu gehö-
ren; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ord-
nen und den einfachen Faden unſeres Freundelebens,
von dem ich doch nur alles anſpinnen könnte, zu ver-
folgen. — Nein, es kränkt mich und ich mache ihr
Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte,
daß ſie die ſchöne Erde verlaſſen hat; ſie hätt' noch
lernen müſſen, daß die Natur Geiſt und Seele hat
und mit dem Menſchen verkehrt, und ſich ſeiner und
ſeines Geſchickes annimmt, und daß Lebensverheißungen
in den Lüften uns umwehen; ja, ſie hat's böſ' mit mir
gemacht, ſie iſt mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr
4*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/107>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.