Arnim, Achim von: Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [163]–201. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ein noch weit größeres Räthsel als Kleist ist der Dichter, zu welchem wir jetzt kommen. Arnim war keine kranke Natur: er war im Leben, nach der Versicherung seiner Freunde, ein gesunder, heiterer, harmonischer Mensch, ein nüchterner Landwirth; und dennoch macht seine Muse Sprünge, neben welchen die größte Kleist'sche Tollheit wie gemeiner Verstand erscheinen kann. An plastischer Kraft zeigt er sich diesem noch überlegen, wenn man nämlich nach einzelnen Proben urtheilen will: in seiner "Dolores", in seinen "Kronenwächtern" finden sich Ansätze zu Lebensgemälden, die mit der gleichen festen Hand ausgeführt, wie sie begonnen sind, das Beste, was die neuere Zeit schuf, hinter sich lassen würden. Aber kaum hat er eine Gruppe in unvergleichlicher Eigenthümlichkeit lebend, athmend vor uns hingestellt, so reizt ihn ein schadenfroher Kobold, sie alsbald wieder zu verschütten und den Schauplatz eines vermeinten Lebens mit Gerümpel von Surrogaten des unbegreiflichsten Schlages anzufüllen. So muß man nun mit dem Schmerz, ja mit dem Zorn der Liebe zusehen, wie Einer, der zum Dichter ersten Ranges geboren scheint, dieses sein Erstgeburtsrecht jeden Augenblick, nicht bloß gegen ein Linsengericht, sondern gegen Bohnen- und Erbsenstroh zu vertauschen fähig ist. Und das nicht aus Krankheit, sondern aus bloßer Laune, aus purer Grille. Vielleicht scheint es aber auch nur so, vielleicht war mit dieser zwar außerordentlichen Begabung den- Ein noch weit größeres Räthsel als Kleist ist der Dichter, zu welchem wir jetzt kommen. Arnim war keine kranke Natur: er war im Leben, nach der Versicherung seiner Freunde, ein gesunder, heiterer, harmonischer Mensch, ein nüchterner Landwirth; und dennoch macht seine Muse Sprünge, neben welchen die größte Kleist'sche Tollheit wie gemeiner Verstand erscheinen kann. An plastischer Kraft zeigt er sich diesem noch überlegen, wenn man nämlich nach einzelnen Proben urtheilen will: in seiner „Dolores“, in seinen „Kronenwächtern“ finden sich Ansätze zu Lebensgemälden, die mit der gleichen festen Hand ausgeführt, wie sie begonnen sind, das Beste, was die neuere Zeit schuf, hinter sich lassen würden. Aber kaum hat er eine Gruppe in unvergleichlicher Eigenthümlichkeit lebend, athmend vor uns hingestellt, so reizt ihn ein schadenfroher Kobold, sie alsbald wieder zu verschütten und den Schauplatz eines vermeinten Lebens mit Gerümpel von Surrogaten des unbegreiflichsten Schlages anzufüllen. So muß man nun mit dem Schmerz, ja mit dem Zorn der Liebe zusehen, wie Einer, der zum Dichter ersten Ranges geboren scheint, dieses sein Erstgeburtsrecht jeden Augenblick, nicht bloß gegen ein Linsengericht, sondern gegen Bohnen- und Erbsenstroh zu vertauschen fähig ist. Und das nicht aus Krankheit, sondern aus bloßer Laune, aus purer Grille. Vielleicht scheint es aber auch nur so, vielleicht war mit dieser zwar außerordentlichen Begabung den- <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <pb facs="#f0007"/> <p>Ein noch weit größeres Räthsel als Kleist ist der Dichter, zu welchem wir jetzt kommen. Arnim war keine kranke Natur: er war im Leben, nach der Versicherung seiner Freunde, ein gesunder, heiterer, harmonischer Mensch, ein nüchterner Landwirth; und dennoch macht seine Muse Sprünge, neben welchen die größte Kleist'sche Tollheit wie gemeiner Verstand erscheinen kann. An plastischer Kraft zeigt er sich diesem noch überlegen, wenn man nämlich nach einzelnen Proben urtheilen will: in seiner „Dolores“, in seinen „Kronenwächtern“ finden sich Ansätze zu Lebensgemälden, die mit der gleichen festen Hand ausgeführt, wie sie begonnen sind, das Beste, was die neuere Zeit schuf, hinter sich lassen würden. Aber kaum hat er eine Gruppe in unvergleichlicher Eigenthümlichkeit lebend, athmend vor uns hingestellt, so reizt ihn ein schadenfroher Kobold, sie alsbald wieder zu verschütten und den Schauplatz eines vermeinten Lebens mit Gerümpel von Surrogaten des unbegreiflichsten Schlages anzufüllen. So muß man nun mit dem Schmerz, ja mit dem Zorn der Liebe zusehen, wie Einer, der zum Dichter ersten Ranges geboren scheint, dieses sein Erstgeburtsrecht jeden Augenblick, nicht bloß gegen ein Linsengericht, sondern gegen Bohnen- und Erbsenstroh zu vertauschen fähig ist. Und das nicht aus Krankheit, sondern aus bloßer Laune, aus purer Grille.</p><lb/> <p>Vielleicht scheint es aber auch nur so, vielleicht war mit dieser zwar außerordentlichen Begabung den-<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0007]
Ein noch weit größeres Räthsel als Kleist ist der Dichter, zu welchem wir jetzt kommen. Arnim war keine kranke Natur: er war im Leben, nach der Versicherung seiner Freunde, ein gesunder, heiterer, harmonischer Mensch, ein nüchterner Landwirth; und dennoch macht seine Muse Sprünge, neben welchen die größte Kleist'sche Tollheit wie gemeiner Verstand erscheinen kann. An plastischer Kraft zeigt er sich diesem noch überlegen, wenn man nämlich nach einzelnen Proben urtheilen will: in seiner „Dolores“, in seinen „Kronenwächtern“ finden sich Ansätze zu Lebensgemälden, die mit der gleichen festen Hand ausgeführt, wie sie begonnen sind, das Beste, was die neuere Zeit schuf, hinter sich lassen würden. Aber kaum hat er eine Gruppe in unvergleichlicher Eigenthümlichkeit lebend, athmend vor uns hingestellt, so reizt ihn ein schadenfroher Kobold, sie alsbald wieder zu verschütten und den Schauplatz eines vermeinten Lebens mit Gerümpel von Surrogaten des unbegreiflichsten Schlages anzufüllen. So muß man nun mit dem Schmerz, ja mit dem Zorn der Liebe zusehen, wie Einer, der zum Dichter ersten Ranges geboren scheint, dieses sein Erstgeburtsrecht jeden Augenblick, nicht bloß gegen ein Linsengericht, sondern gegen Bohnen- und Erbsenstroh zu vertauschen fähig ist. Und das nicht aus Krankheit, sondern aus bloßer Laune, aus purer Grille.
Vielleicht scheint es aber auch nur so, vielleicht war mit dieser zwar außerordentlichen Begabung den-
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Zitationshilfe: | Arnim, Achim von: Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [163]–201. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnim_invalide_1910/7>, abgerufen am 17.02.2025. |