Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Adler.
Mein Nachbar.

Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes.

An jedem Abend, wenn die späte Stunde
Die müden Glieder in den Schlummer lockt,
Und ich im Vorgefühl der süßen Ruhe
Das Buch gesättigt aus den Händen lege,
Fängt über mir ein störendes Concert an.
Es gleiten Finger über das Piano
Und sonder Zweifel ungeschickte Finger.
Bald hör ich eine Scala, wie ein Schüler
Beim Unterrichte sie nicht schlechter spielt,
Bald eine Melodie aus irgend einer
Uralten Oper oder Operette --
Das alles unterbrochen oft durch Pausen,
Die nicht im Notenblatte stehen mögen,
Durch falsche Griffe, die in wilder Hast
Sofort noch einmal falsch gegriffen werden:
Kurz, ich bin selbst nicht sonderlich empfindlich
In Rücksicht auf das Musikalische,
Doch denkt die Zeit, die Ruhebedürftigkeit
Und nehm't dazu den seltsamen Genuß,
Und dann vergebt mir nicht, wenn ich am Ende
Voll Aerger nach dem Concertirer forsche,
Die unbequemen Klänge abzuthun.
Und was vernahm ich? Ein bejahrter Mann,
Ein dürftiger, ist mein Pianospieler,
Den ganzen Tag geht er dem Handwerk nach,
Und Abends, wenn die Kinder eingeschlafen,
Für die er all' die schweren Sorgen trägt,
Uebt er Piano.
Lacht mich aus darum.
Mir traten ein paar Thränen in die Augen;
Mitfühlend las ich in des Mannes Herz.

6
Friedrich Adler.
Mein Nachbar.

Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes.

An jedem Abend, wenn die ſpäte Stunde
Die müden Glieder in den Schlummer lockt,
Und ich im Vorgefühl der ſüßen Ruhe
Das Buch geſättigt aus den Händen lege,
Fängt über mir ein ſtörendes Concert an.
Es gleiten Finger über das Piano
Und ſonder Zweifel ungeſchickte Finger.
Bald hör ich eine Scala, wie ein Schüler
Beim Unterrichte ſie nicht ſchlechter ſpielt,
Bald eine Melodie aus irgend einer
Uralten Oper oder Operette —
Das alles unterbrochen oft durch Pauſen,
Die nicht im Notenblatte ſtehen mögen,
Durch falſche Griffe, die in wilder Haſt
Sofort noch einmal falſch gegriffen werden:
Kurz, ich bin ſelbſt nicht ſonderlich empfindlich
In Rückſicht auf das Muſikaliſche,
Doch denkt die Zeit, die Ruhebedürftigkeit
Und nehm’t dazu den ſeltſamen Genuß,
Und dann vergebt mir nicht, wenn ich am Ende
Voll Aerger nach dem Concertirer forſche,
Die unbequemen Klänge abzuthun.
Und was vernahm ich? Ein bejahrter Mann,
Ein dürftiger, iſt mein Pianoſpieler,
Den ganzen Tag geht er dem Handwerk nach,
Und Abends, wenn die Kinder eingeſchlafen,
Für die er all’ die ſchweren Sorgen trägt,
Uebt er Piano.
Lacht mich aus darum.
Mir traten ein paar Thränen in die Augen;
Mitfühlend las ich in des Mannes Herz.

6
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0099" n="81"/>
        <fw place="top" type="header">Friedrich Adler.</fw><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Mein Nachbar.</hi> </head><lb/>
          <p> <hi rendition="#c">Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes.</hi> </p><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>An jedem Abend, wenn die &#x017F;päte Stunde</l><lb/>
              <l>Die müden Glieder in den Schlummer lockt,</l><lb/>
              <l>Und ich im Vorgefühl der &#x017F;üßen Ruhe</l><lb/>
              <l>Das Buch ge&#x017F;ättigt aus den Händen lege,</l><lb/>
              <l>Fängt über mir ein &#x017F;törendes Concert an.</l><lb/>
              <l>Es gleiten Finger über das Piano</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;onder Zweifel unge&#x017F;chickte Finger.</l><lb/>
              <l>Bald hör ich eine Scala, wie ein Schüler</l><lb/>
              <l>Beim Unterrichte &#x017F;ie nicht &#x017F;chlechter &#x017F;pielt,</l><lb/>
              <l>Bald eine Melodie aus irgend einer</l><lb/>
              <l>Uralten Oper oder Operette &#x2014;</l><lb/>
              <l>Das alles unterbrochen oft durch Pau&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Die nicht im Notenblatte &#x017F;tehen mögen,</l><lb/>
              <l>Durch fal&#x017F;che Griffe, die in wilder Ha&#x017F;t</l><lb/>
              <l>Sofort noch einmal fal&#x017F;ch gegriffen werden:</l><lb/>
              <l>Kurz, ich bin &#x017F;elb&#x017F;t nicht &#x017F;onderlich empfindlich</l><lb/>
              <l>In Rück&#x017F;icht auf das Mu&#x017F;ikali&#x017F;che,</l><lb/>
              <l>Doch denkt die Zeit, die Ruhebedürftigkeit</l><lb/>
              <l>Und nehm&#x2019;t dazu den &#x017F;elt&#x017F;amen Genuß,</l><lb/>
              <l>Und dann vergebt mir nicht, wenn ich am Ende</l><lb/>
              <l>Voll Aerger nach dem Concertirer for&#x017F;che,</l><lb/>
              <l>Die unbequemen Klänge abzuthun.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Und was vernahm ich? Ein bejahrter Mann,</l><lb/>
              <l>Ein dürftiger, i&#x017F;t mein Piano&#x017F;pieler,</l><lb/>
              <l>Den ganzen Tag geht er dem Handwerk nach,</l><lb/>
              <l>Und Abends, wenn die Kinder einge&#x017F;chlafen,</l><lb/>
              <l>Für die er all&#x2019; die &#x017F;chweren Sorgen trägt,</l><lb/>
              <l>Uebt er Piano.</l><lb/>
              <l>Lacht mich aus darum.</l><lb/>
              <l>Mir traten ein paar Thränen in die Augen;</l><lb/>
              <l>Mitfühlend las ich in des Mannes Herz.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">6</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0099] Friedrich Adler. Mein Nachbar. Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes. An jedem Abend, wenn die ſpäte Stunde Die müden Glieder in den Schlummer lockt, Und ich im Vorgefühl der ſüßen Ruhe Das Buch geſättigt aus den Händen lege, Fängt über mir ein ſtörendes Concert an. Es gleiten Finger über das Piano Und ſonder Zweifel ungeſchickte Finger. Bald hör ich eine Scala, wie ein Schüler Beim Unterrichte ſie nicht ſchlechter ſpielt, Bald eine Melodie aus irgend einer Uralten Oper oder Operette — Das alles unterbrochen oft durch Pauſen, Die nicht im Notenblatte ſtehen mögen, Durch falſche Griffe, die in wilder Haſt Sofort noch einmal falſch gegriffen werden: Kurz, ich bin ſelbſt nicht ſonderlich empfindlich In Rückſicht auf das Muſikaliſche, Doch denkt die Zeit, die Ruhebedürftigkeit Und nehm’t dazu den ſeltſamen Genuß, Und dann vergebt mir nicht, wenn ich am Ende Voll Aerger nach dem Concertirer forſche, Die unbequemen Klänge abzuthun. Und was vernahm ich? Ein bejahrter Mann, Ein dürftiger, iſt mein Pianoſpieler, Den ganzen Tag geht er dem Handwerk nach, Und Abends, wenn die Kinder eingeſchlafen, Für die er all’ die ſchweren Sorgen trägt, Uebt er Piano. Lacht mich aus darum. Mir traten ein paar Thränen in die Augen; Mitfühlend las ich in des Mannes Herz. 6

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/99
Zitationshilfe: Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885], S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/99>, abgerufen am 22.12.2024.