Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Karl Henckell. Hastig huschen Gestalten vorbei, Keine fragt, wer die and're sei, Keine fragt dich nach Lust und Schmerz, Keine horcht auf der andern Herz. Keine sorgt, ob du krank und schwach, Jede rennt dem Glücke nach, Jede stürzt ohne Rast und Ruh Der hinrollenden Dirne zu. Langsam schlendr' ich im Schwarm allein -- Magisch leuchtet der blaue Schein. Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat, Bettler in Fetzen, Hure im Staat. Rechnend drängt sich der Kaufmann hin. Rechnet des Tages Verlust und Gewinn. Werkmann bebt vor der Winters Noth: "Fänd' ich, ach fänd' ich mein täglich Brod! Hungernd wartet die Kinderschaar, 's ist ein böses, ein böses Jahr." Bruder Studio zum Freunde spricht: "Warte, das Mädel entkommt uns nicht! Siehst du, sie guckt; brillant, famos! Walter, nun sieh' doch -- die Taille bloß!" Steht der Gardist in Positur, Weil der Hauptmann vorüber fuhr, Ließ seine Donna im Stich -- allein: "Ja, liebste Rosa, Respekt muß sein." "Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet, Rosen und Veilchen, duftend und nett! Bitte, mein Herr, ach so sei'n Sie so gut!" "Scheer' dich zum Teufel, du Gassenbrut! Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal." "Unter Kam'raden ganz egal." "Sehen Sie, bitte! Grandiose Figur, Wirklich charmant, merveilleuse Frisur." "Echt garantirt? Doch das macht nichts aus. Hm! Begleiten wir sie zu Haus?" "Neuestes Extrablatt! Schwurgericht!" Hei, das drängt sich neugierig dicht. "So ein Schwindler, ein frecher Hund, Schlägt erst todt und leugnet es rund." Karl Henckell. Haſtig huſchen Geſtalten vorbei, Keine fragt, wer die and’re ſei, Keine fragt dich nach Luſt und Schmerz, Keine horcht auf der andern Herz. Keine ſorgt, ob du krank und ſchwach, Jede rennt dem Glücke nach, Jede ſtürzt ohne Raſt und Ruh Der hinrollenden Dirne zu. Langſam ſchlendr’ ich im Schwarm allein — Magiſch leuchtet der blaue Schein. Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat, Bettler in Fetzen, Hure im Staat. Rechnend drängt ſich der Kaufmann hin. Rechnet des Tages Verluſt und Gewinn. Werkmann bebt vor der Winters Noth: „Fänd’ ich, ach fänd’ ich mein täglich Brod! Hungernd wartet die Kinderſchaar, ’s iſt ein böſes, ein böſes Jahr.“ Bruder Studio zum Freunde ſpricht: „Warte, das Mädel entkommt uns nicht! Siehſt du, ſie guckt; brillant, famos! Walter, nun ſieh’ doch — die Taille bloß!“ Steht der Gardiſt in Poſitur, Weil der Hauptmann vorüber fuhr, Ließ ſeine Donna im Stich — allein: „Ja, liebſte Roſa, Reſpekt muß ſein.“ „Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet, Roſen und Veilchen, duftend und nett! Bitte, mein Herr, ach ſo ſei’n Sie ſo gut!“ „Scheer’ dich zum Teufel, du Gaſſenbrut! Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal.“ „Unter Kam’raden ganz egal.“ „Sehen Sie, bitte! Grandioſe Figur, Wirklich charmant, merveilleuſe Friſur.“ „Echt garantirt? Doch das macht nichts aus. Hm! Begleiten wir ſie zu Haus?“ „Neueſtes Extrablatt! Schwurgericht!“ Hei, das drängt ſich neugierig dicht. „So ein Schwindler, ein frecher Hund, Schlägt erſt todt und leugnet es rund.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="1"> <pb facs="#f0297" n="279"/> <fw place="top" type="header">Karl Henckell.</fw><lb/> <l>Haſtig huſchen Geſtalten vorbei,</l><lb/> <l>Keine fragt, wer die and’re ſei,</l><lb/> <l>Keine fragt dich nach Luſt und Schmerz,</l><lb/> <l>Keine horcht auf der andern Herz.</l><lb/> <l>Keine ſorgt, ob du krank und ſchwach,</l><lb/> <l>Jede rennt dem Glücke nach,</l><lb/> <l>Jede ſtürzt ohne Raſt und Ruh</l><lb/> <l>Der hinrollenden Dirne zu.</l><lb/> <l>Langſam ſchlendr’ ich im Schwarm allein —</l><lb/> <l>Magiſch leuchtet der blaue Schein.</l><lb/> <l>Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat,</l><lb/> <l>Bettler in Fetzen, Hure im Staat.</l><lb/> <l>Rechnend drängt ſich der Kaufmann hin.</l><lb/> <l>Rechnet des Tages Verluſt und Gewinn.</l><lb/> <l>Werkmann bebt vor der Winters Noth:</l><lb/> <l>„Fänd’ ich, ach fänd’ ich mein täglich Brod!</l><lb/> <l>Hungernd wartet die Kinderſchaar,</l><lb/> <l>’s iſt ein böſes, ein böſes Jahr.“</l><lb/> <l>Bruder Studio zum Freunde ſpricht:</l><lb/> <l>„Warte, das Mädel entkommt uns nicht!</l><lb/> <l>Siehſt du, ſie guckt; brillant, famos!</l><lb/> <l>Walter, nun ſieh’ doch — die Taille bloß!“</l><lb/> <l>Steht der Gardiſt in Poſitur,</l><lb/> <l>Weil der Hauptmann vorüber fuhr,</l><lb/> <l>Ließ ſeine Donna im Stich — allein:</l><lb/> <l>„Ja, liebſte Roſa, Reſpekt muß ſein.“</l><lb/> <l>„Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet,</l><lb/> <l>Roſen und Veilchen, duftend und nett!</l><lb/> <l>Bitte, mein Herr, ach ſo ſei’n Sie ſo gut!“</l><lb/> <l>„Scheer’ dich zum Teufel, du Gaſſenbrut!</l><lb/> <l>Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal.“</l><lb/> <l>„Unter Kam’raden ganz egal.“</l><lb/> <l>„Sehen Sie, bitte! 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Karl Henckell.
Haſtig huſchen Geſtalten vorbei,
Keine fragt, wer die and’re ſei,
Keine fragt dich nach Luſt und Schmerz,
Keine horcht auf der andern Herz.
Keine ſorgt, ob du krank und ſchwach,
Jede rennt dem Glücke nach,
Jede ſtürzt ohne Raſt und Ruh
Der hinrollenden Dirne zu.
Langſam ſchlendr’ ich im Schwarm allein —
Magiſch leuchtet der blaue Schein.
Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat,
Bettler in Fetzen, Hure im Staat.
Rechnend drängt ſich der Kaufmann hin.
Rechnet des Tages Verluſt und Gewinn.
Werkmann bebt vor der Winters Noth:
„Fänd’ ich, ach fänd’ ich mein täglich Brod!
Hungernd wartet die Kinderſchaar,
’s iſt ein böſes, ein böſes Jahr.“
Bruder Studio zum Freunde ſpricht:
„Warte, das Mädel entkommt uns nicht!
Siehſt du, ſie guckt; brillant, famos!
Walter, nun ſieh’ doch — die Taille bloß!“
Steht der Gardiſt in Poſitur,
Weil der Hauptmann vorüber fuhr,
Ließ ſeine Donna im Stich — allein:
„Ja, liebſte Roſa, Reſpekt muß ſein.“
„Blumen, Blumen, o kauft ein Bouquet,
Roſen und Veilchen, duftend und nett!
Bitte, mein Herr, ach ſo ſei’n Sie ſo gut!“
„Scheer’ dich zum Teufel, du Gaſſenbrut!
Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal.“
„Unter Kam’raden ganz egal.“
„Sehen Sie, bitte! Grandioſe Figur,
Wirklich charmant, merveilleuſe Friſur.“
„Echt garantirt? Doch das macht nichts aus.
Hm! Begleiten wir ſie zu Haus?“
„Neueſtes Extrablatt! Schwurgericht!“
Hei, das drängt ſich neugierig dicht.
„So ein Schwindler, ein frecher Hund,
Schlägt erſt todt und leugnet es rund.“
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