Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Die neue Lyrik. Einleitung von Karl Henckell. Freudigen Herzens spreche ich der folgenden Sammlung jüngster Lyrik Moderne deutsche Lyrik -- wer nennt mir drei andere Worte unserer Die neue Lyrik. Einleitung von Karl Henckell. Freudigen Herzens ſpreche ich der folgenden Sammlung jüngſter Lyrik Moderne deutſche Lyrik — wer nennt mir drei andere Worte unſerer <TEI> <text> <front> <pb facs="#f0015" n="[V]"/> <div n="1"> <head><hi rendition="#b">Die neue Lyrik.</hi><lb/> Einleitung von <hi rendition="#g">Karl Henckell.</hi></head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p><hi rendition="#in">F</hi>reudigen Herzens ſpreche ich der folgenden Sammlung jüngſter Lyrik<lb/> ein Wort des Geleites. Freilich — ſie muß und wird für ſich ſelbſt ſprechen,<lb/> doch iſt es in dieſem Falle nicht nur <hi rendition="#g">nicht</hi> überflüſſig, ſondern ſogar <hi rendition="#g">ge-<lb/> boten,</hi> Weſen und Abſicht des Dargebrachten etwas eingehender zu be-<lb/> leuchten. Denn nicht eine neue Anthologie nach tauſend anderen ſchleudern<lb/> wir in die Welt, die ebenſo, wie jene, der buchhändleriſchen Speculation<lb/> dienen und ſich vielleicht nur durch Titel und Auswahl von ihren Vorgän-<lb/> gerinnen unterſcheiden würde, nein, <hi rendition="#g">unſer</hi> Zweck iſt ein anderer, höherer,<lb/> rein ideeller. Die „Dichtercharaktere“ ſind — ſagen wir es kurz her-<lb/> aus — beſtimmt, direkt in die Entwickelung der modernen deutſchen Lyrik<lb/> einzugreifen. Was das heißt, ſei für weitere Kreiſe kurz erörtert.</p><lb/> <p>Moderne deutſche Lyrik — wer nennt mir drei andere Worte unſerer<lb/> Sprache, bei denen eine gleich tiefe Kluft gähnt zwiſchen dem wahren Sinne<lb/> derſelben und dem Dinge, zu deſſen Bezeichnung ſie herabgeſunken ſind? In<lb/> Wahrheit, es iſt ein trauriges Bekenntniß, aber wir haben in den letzten<lb/> Dezennien weder eine moderne, noch eine deutſche, noch überhaupt eine Lyrik<lb/> beſeſſen, die dieſes heiligen Namens der urſprünglichſten, elementarſten und<lb/> reinſten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre. Wie auf allen<lb/> übrigen Gebieten der Poeſie ohne Ausnahme hat auch auf dem der Lyrik der<lb/> Dilettantismus jeder Form das unrühmliche Scepter erobert. Und zwar hat<lb/> der feine, geſchickte und gebildete Dilettantismus wirklich oligarchiſch geherrſcht<lb/> und thut es noch, während ſich ſein gröberer, ungeſchickter und ungeſchliffener<lb/> Mitſproß mehr denn je raupenartig fortgepflanzt hat und unheimlich wimmelnd<lb/> das ganze liebe deutſche Land von Morgen bis gen Abend unſicher macht.<lb/> Der Dilettantismus erſter Sorte iſt der wirklich gefährliche, denn weil er<lb/> herrſcht und ſich für wahre Kunſt ausgiebt, verbildet er den Geſchmack des<lb/> Publikums, das ihm blind dient, und untergräbt das Verſtändniß echter<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [[V]/0015]
Die neue Lyrik.
Einleitung von Karl Henckell.
Freudigen Herzens ſpreche ich der folgenden Sammlung jüngſter Lyrik
ein Wort des Geleites. Freilich — ſie muß und wird für ſich ſelbſt ſprechen,
doch iſt es in dieſem Falle nicht nur nicht überflüſſig, ſondern ſogar ge-
boten, Weſen und Abſicht des Dargebrachten etwas eingehender zu be-
leuchten. Denn nicht eine neue Anthologie nach tauſend anderen ſchleudern
wir in die Welt, die ebenſo, wie jene, der buchhändleriſchen Speculation
dienen und ſich vielleicht nur durch Titel und Auswahl von ihren Vorgän-
gerinnen unterſcheiden würde, nein, unſer Zweck iſt ein anderer, höherer,
rein ideeller. Die „Dichtercharaktere“ ſind — ſagen wir es kurz her-
aus — beſtimmt, direkt in die Entwickelung der modernen deutſchen Lyrik
einzugreifen. Was das heißt, ſei für weitere Kreiſe kurz erörtert.
Moderne deutſche Lyrik — wer nennt mir drei andere Worte unſerer
Sprache, bei denen eine gleich tiefe Kluft gähnt zwiſchen dem wahren Sinne
derſelben und dem Dinge, zu deſſen Bezeichnung ſie herabgeſunken ſind? In
Wahrheit, es iſt ein trauriges Bekenntniß, aber wir haben in den letzten
Dezennien weder eine moderne, noch eine deutſche, noch überhaupt eine Lyrik
beſeſſen, die dieſes heiligen Namens der urſprünglichſten, elementarſten und
reinſten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre. Wie auf allen
übrigen Gebieten der Poeſie ohne Ausnahme hat auch auf dem der Lyrik der
Dilettantismus jeder Form das unrühmliche Scepter erobert. Und zwar hat
der feine, geſchickte und gebildete Dilettantismus wirklich oligarchiſch geherrſcht
und thut es noch, während ſich ſein gröberer, ungeſchickter und ungeſchliffener
Mitſproß mehr denn je raupenartig fortgepflanzt hat und unheimlich wimmelnd
das ganze liebe deutſche Land von Morgen bis gen Abend unſicher macht.
Der Dilettantismus erſter Sorte iſt der wirklich gefährliche, denn weil er
herrſcht und ſich für wahre Kunſt ausgiebt, verbildet er den Geſchmack des
Publikums, das ihm blind dient, und untergräbt das Verſtändniß echter
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