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Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].

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Einleitung.
thums, über den Dingen -- über Sonderinteressen und Parteibestrebungen
und repräsentirt somit nur das reine, unverfälschte, weder durch raffinirte
Uebercultur noch durch paradiesische Culturlosigkeit beeinflußte Menschenthum.

Gleich stark und gleich wahr lebt in Allen, die sich zu diesem Kreise
zusammengefunden, das grandiose Protestgefühl gegen Unnatur und Charakter-
losigkeit; gegen Ungerechtigkeit und Feigheit, die auf allen Gassen und Märkten
gepflegt wird; gegen Heuchelei und Obscurantismus; gegen Dilettantismus
in Kunst und Leben; gegen den brutalen Egoismus und erbärmlichen Parti-
cularismus, die nirgends ein großes, starkes Gemeingefühl, ein lebendiges
Einigkeitsbewußtsein aufkommen lassen!

In mannigfachen Tönen und Farben, bald leiser, bald lauter, bald milder,
bald greller, erhebt die Phalanx diese Anklagen. Sie verschleiert und verwässert
sie nicht -- sie ist sogar so kühn, sie offen und deutlich in ihrem "Credo"
anzudeuten. Ich sage bewußt: anzudeuten.

Denn das "Credo" soll nicht nur diese Seite der dichterischen Indi-
vidualitäten bezeichnen -- es soll den Modus charakterisiren, in dem die
neue Richtung sich ausgiebt: Sie will mit der Wucht, mit der Kraft, mit
der Eigenheit und Ursprünglichkeit ihrer Persönlichkeiten eintreten und wirken;
sie will sich geben, wie sie leben will: wahr und groß, intim und confessionell.
Sie protestirt damit gegen die verblaßten, farblosen, alltäglichen Schablonen-
naturen, die keinen Funken eigenen Geistes haben und damit kein reiches
und wahrhaft verinnerlichtes Seelenleben führen. Sie will die Zeit der
"großen Seelen und tiefen Gefühle" wieder begründen.

Darum hat diese neue Anthologie nicht nur einen litterarischen -- sie
hat einen culturellen Werth!

Und darum ist sie in sich und durch sich lebenskräftig, mögen ihr auch
verschiedene Schwächen anhaften, die später getilgt werden können.

Charles Bandelaire sagt; "Tout homme bien portant peut se passer
de manger pendant deux jours; de poesie -- jamais!"

Ist unsere Lyrik wieder wahr, groß, starkgeistig, gewaltig ge-
worden, dann werden die Gesunden und Kranken wieder zu ihren Quellen
pilgern.

Dann wird Bandelaire's "de poesie jamais!" zur lauteren Wahrheit
werden! -- "Groß ist die Wahrheit und übergewaltig."

Wir siegen, wenn wir dieses Wort nicht vergessen.

Und wir werden es nicht vergessen!

Berlin, November 1884.

Hermann Conradi.


Einleitung.
thums, über den Dingen — über Sonderintereſſen und Parteibeſtrebungen
und repräſentirt ſomit nur das reine, unverfälſchte, weder durch raffinirte
Uebercultur noch durch paradieſiſche Culturloſigkeit beeinflußte Menſchenthum.

Gleich ſtark und gleich wahr lebt in Allen, die ſich zu dieſem Kreiſe
zuſammengefunden, das grandioſe Proteſtgefühl gegen Unnatur und Charakter-
loſigkeit; gegen Ungerechtigkeit und Feigheit, die auf allen Gaſſen und Märkten
gepflegt wird; gegen Heuchelei und Obscurantismus; gegen Dilettantismus
in Kunſt und Leben; gegen den brutalen Egoismus und erbärmlichen Parti-
cularismus, die nirgends ein großes, ſtarkes Gemeingefühl, ein lebendiges
Einigkeitsbewußtſein aufkommen laſſen!

In mannigfachen Tönen und Farben, bald leiſer, bald lauter, bald milder,
bald greller, erhebt die Phalanx dieſe Anklagen. Sie verſchleiert und verwäſſert
ſie nicht — ſie iſt ſogar ſo kühn, ſie offen und deutlich in ihrem „Credo“
anzudeuten. Ich ſage bewußt: anzudeuten.

Denn das „Credo“ ſoll nicht nur dieſe Seite der dichteriſchen Indi-
vidualitäten bezeichnen — es ſoll den Modus charakteriſiren, in dem die
neue Richtung ſich ausgiebt: Sie will mit der Wucht, mit der Kraft, mit
der Eigenheit und Urſprünglichkeit ihrer Perſönlichkeiten eintreten und wirken;
ſie will ſich geben, wie ſie leben will: wahr und groß, intim und confeſſionell.
Sie proteſtirt damit gegen die verblaßten, farbloſen, alltäglichen Schablonen-
naturen, die keinen Funken eigenen Geiſtes haben und damit kein reiches
und wahrhaft verinnerlichtes Seelenleben führen. Sie will die Zeit der
„großen Seelen und tiefen Gefühle“ wieder begründen.

Darum hat dieſe neue Anthologie nicht nur einen litterariſchen — ſie
hat einen culturellen Werth!

Und darum iſt ſie in ſich und durch ſich lebenskräftig, mögen ihr auch
verſchiedene Schwächen anhaften, die ſpäter getilgt werden können.

Charles Bandelaire ſagt; „Tout homme bien portant peut se passer
de manger pendant deux jours; de poésie — jamais!

Iſt unſere Lyrik wieder wahr, groß, ſtarkgeiſtig, gewaltig ge-
worden, dann werden die Geſunden und Kranken wieder zu ihren Quellen
pilgern.

Dann wird Bandelaire’s „de poésie jamais!“ zur lauteren Wahrheit
werden! — „Groß iſt die Wahrheit und übergewaltig.“

Wir ſiegen, wenn wir dieſes Wort nicht vergeſſen.

Und wir werden es nicht vergeſſen!

Berlin, November 1884.

Hermann Conradi.


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Zitationshilfe: Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885], S. IV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/14>, abgerufen am 23.11.2024.