porär zu entgehen sucht, als vielmehr durch blinden Naturtrieb hebt der Torquirte den andern Fuß in die Höhe. Es brennt aber an dem Ersten so stark, daß auch dieser sich von dem un- angenehmen Berührungspunkt zu entfernen sucht. Unterdessen übernimmt der erste Fuß wieder das Geschäft. Am liebsten stünde der Mensch auf gar keinem Fuß. Da dieß nun aber nicht angeht, so bleibt nichts übrig, als fortwährendes Wech- seln beider Füße. Je heißer und glühender nun die Eisenplatte wird, um so weniger lang hält's jeder Fuß aus, um so schnel- ler wechselt das auf Einem Fuß Stehen, um so höher springt der Gemartete. Dieß ist ein Indianischer Tanz, dem der fürst- liche Hof mit sehr viel Beifall zuschaut. Kann hierin die Er- findung der Tanzkunst gesucht werden? So wenig als im Hunger die der Eßkunst.
Wo die Noth ist, ist das Schöne nicht, wo das Schöne ist, ist keine Noth. Das Schöne ist das gerade Widerspiel al- ler Noth; ein Kunstwerk, dem man Noth ansieht, ist nicht schön.
Gewisse neuere Dichter holen allen ihren Stoff aus Noth, Hunger, Elend, Krankheit, Mangel, Abscheu, Ekel -- pfui Teufel! -- die Waare wird auch darnach.
Wie widersprechend und dumm nimmt sich eine essende Trauerversammlung aus! Wie widerlich ist ein Todtenkopf mit einem Blumenkranz! Wie unausstehlich ein Kotzebuescher Ausbruch der Verzweiflung in Versen!
Wie trüb und unerfreulich ist selbst der göttliche Schiller, wo er jammert und z. B. seine Melancholie an Laura winselt! Wie kaum erträglich wird der sonst so menschlich schöne und liebenswürdige Jean Paul, wenn er einen Mann zwei Bände lang über seinen bevorstehenden Tod lamentiren läßt, und zu wie vielen Mißgriffen haben solche falsche Molltöne erst Andere veranlaßt!
Weil die Wenigsten wissen, oder Muth, Resignation und Kraft haben, zu begreifen, was Kunst ist, drängt sich Alles
poraͤr zu entgehen ſucht, als vielmehr durch blinden Naturtrieb hebt der Torquirte den andern Fuß in die Hoͤhe. Es brennt aber an dem Erſten ſo ſtark, daß auch dieſer ſich von dem un- angenehmen Beruͤhrungspunkt zu entfernen ſucht. Unterdeſſen uͤbernimmt der erſte Fuß wieder das Geſchaͤft. Am liebſten ſtuͤnde der Menſch auf gar keinem Fuß. Da dieß nun aber nicht angeht, ſo bleibt nichts uͤbrig, als fortwaͤhrendes Wech- ſeln beider Fuͤße. Je heißer und gluͤhender nun die Eiſenplatte wird, um ſo weniger lang haͤlt’s jeder Fuß aus, um ſo ſchnel- ler wechſelt das auf Einem Fuß Stehen, um ſo hoͤher ſpringt der Gemartete. Dieß iſt ein Indianiſcher Tanz, dem der fuͤrſt- liche Hof mit ſehr viel Beifall zuſchaut. Kann hierin die Er- findung der Tanzkunſt geſucht werden? So wenig als im Hunger die der Eßkunſt.
Wo die Noth iſt, iſt das Schoͤne nicht, wo das Schoͤne iſt, iſt keine Noth. Das Schoͤne iſt das gerade Widerſpiel al- ler Noth; ein Kunſtwerk, dem man Noth anſieht, iſt nicht ſchoͤn.
Gewiſſe neuere Dichter holen allen ihren Stoff aus Noth, Hunger, Elend, Krankheit, Mangel, Abſcheu, Ekel — pfui Teufel! — die Waare wird auch darnach.
Wie widerſprechend und dumm nimmt ſich eine eſſende Trauerverſammlung aus! Wie widerlich iſt ein Todtenkopf mit einem Blumenkranz! Wie unausſtehlich ein Kotzebueſcher Ausbruch der Verzweiflung in Verſen!
Wie truͤb und unerfreulich iſt ſelbſt der goͤttliche Schiller, wo er jammert und z. B. ſeine Melancholie an Laura winſelt! Wie kaum ertraͤglich wird der ſonſt ſo menſchlich ſchoͤne und liebenswuͤrdige Jean Paul, wenn er einen Mann zwei Baͤnde lang uͤber ſeinen bevorſtehenden Tod lamentiren laͤßt, und zu wie vielen Mißgriffen haben ſolche falſche Molltoͤne erſt Andere veranlaßt!
Weil die Wenigſten wiſſen, oder Muth, Reſignation und Kraft haben, zu begreifen, was Kunſt iſt, draͤngt ſich Alles
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hebt der Torquirte den andern Fuß in die Hoͤhe. Es brennt
aber an dem Erſten ſo ſtark, daß auch dieſer ſich von dem un-
angenehmen Beruͤhrungspunkt zu entfernen ſucht. Unterdeſſen
uͤbernimmt der erſte Fuß wieder das Geſchaͤft. Am liebſten
ſtuͤnde der Menſch auf gar keinem Fuß. Da dieß nun aber
nicht angeht, ſo bleibt nichts uͤbrig, als fortwaͤhrendes Wech-
ſeln beider Fuͤße. Je heißer und gluͤhender nun die Eiſenplatte
wird, um ſo weniger lang haͤlt’s jeder Fuß aus, um ſo ſchnel-
ler wechſelt das auf Einem Fuß Stehen, um ſo hoͤher ſpringt
der Gemartete. Dieß iſt ein Indianiſcher Tanz, dem der fuͤrſt-
liche Hof mit ſehr viel Beifall zuſchaut. Kann hierin die Er-
findung der Tanzkunſt geſucht werden? So wenig als im
Hunger die der Eßkunſt.
Wo die Noth iſt, iſt das Schoͤne nicht, wo das Schoͤne
iſt, iſt keine Noth. Das Schoͤne iſt das gerade Widerſpiel al-
ler Noth; ein Kunſtwerk, dem man Noth anſieht, iſt nicht ſchoͤn.
Gewiſſe neuere Dichter holen allen ihren Stoff aus Noth,
Hunger, Elend, Krankheit, Mangel, Abſcheu, Ekel — pfui
Teufel! — die Waare wird auch darnach.
Wie widerſprechend und dumm nimmt ſich eine eſſende
Trauerverſammlung aus! Wie widerlich iſt ein Todtenkopf
mit einem Blumenkranz! Wie unausſtehlich ein Kotzebueſcher
Ausbruch der Verzweiflung in Verſen!
Wie truͤb und unerfreulich iſt ſelbſt der goͤttliche Schiller,
wo er jammert und z. B. ſeine Melancholie an Laura winſelt!
Wie kaum ertraͤglich wird der ſonſt ſo menſchlich ſchoͤne und
liebenswuͤrdige Jean Paul, wenn er einen Mann zwei Baͤnde
lang uͤber ſeinen bevorſtehenden Tod lamentiren laͤßt, und zu
wie vielen Mißgriffen haben ſolche falſche Molltoͤne erſt Andere
veranlaßt!
Weil die Wenigſten wiſſen, oder Muth, Reſignation und
Kraft haben, zu begreifen, was Kunſt iſt, draͤngt ſich Alles
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/84>, abgerufen am 23.07.2024.
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