vorgekommen sein, daß bei gewissen festlichen Essen ein Freund den andern denunzirte, dieser hätte nicht laut genug geschrieen: ein durch die Beschuldigung hinlänglich erwiesenes Verbrechen, welches nicht ohne das größte Mißfallen vermerkt werden konnte. Bei so viel gemachtem, forcirtem und surveillirtem Ge- schrei fühlt sich mancher klare Beobachter, der zugleich ein Mensch ist, in ein sehr appetitstörendes Mißbehagen versetzt, und leert lieber sein Glas wahr und aufrichtig im Stillen, oder unter einem blos beifälligen, weniger lauten Brummer, um nicht von einem andern Menschen jener unlauteren lauten Classe beige- zählt zu werden.
Noch hab' ich derjenigen jungen und alten gemüthlichen Seelen zu erwähnen, welche mit irgend einem unschuldigen Mitmenschen nicht zum dritten Mal essen können, ohne wie Don Carlos zum Marquis Posa, oder der Parapluiemacher Staberl zu aller Welt, zu sagen: Sie, sag'n wir Du zu ein- ander! -- Wäre es wegen unseres sonderbaren Deutschen "Sie" -- denn Deutschland ist das Vaterland dieser Du's -- da wir kein "vous" und "you" brauchen, ob wir's gleich eben so gut und gescheidt könnten, ja unsere Vorfahren es wirklich thaten, so möchte es eher hingehen. Es ist aber nichts weni- ger als deßhalb.
Hier helfen nun oft alle Mittel nichts, dem angedrohten Bruderkuß, welcher oft unter Käuen applizirt wird, zu ent- gehen. Alle Schlauheiten des Ueberhörens, des Falschverstehens, des Ablenkens, ja selbst ein deutliches: "Ihr Wohl! Sie sollen leben!" -- ein mit einem andern Nachbar angefangenes Gespräch, ein fingirtes Nasenbluten etc. etc. sind häufig vergebens, einen solchen Dutz-Egel sich vom Leibe zu halten. Das Unabwend- bare geschieht, und der neue brüderliche Freund hält sich von diesem unglückseligen Augenblick an für berechtigt, rücksichtslos grob zu sein. Wohl dem, welchen die Natur so construirte, daß er mit eherner Brust zu sagen vermag: "ich danke schönstens;
vorgekommen ſein, daß bei gewiſſen feſtlichen Eſſen ein Freund den andern denunzirte, dieſer haͤtte nicht laut genug geſchrieen: ein durch die Beſchuldigung hinlaͤnglich erwieſenes Verbrechen, welches nicht ohne das groͤßte Mißfallen vermerkt werden konnte. Bei ſo viel gemachtem, forcirtem und ſurveillirtem Ge- ſchrei fuͤhlt ſich mancher klare Beobachter, der zugleich ein Menſch iſt, in ein ſehr appetitſtoͤrendes Mißbehagen verſetzt, und leert lieber ſein Glas wahr und aufrichtig im Stillen, oder unter einem blos beifaͤlligen, weniger lauten Brummer, um nicht von einem andern Menſchen jener unlauteren lauten Claſſe beige- zaͤhlt zu werden.
Noch hab’ ich derjenigen jungen und alten gemuͤthlichen Seelen zu erwaͤhnen, welche mit irgend einem unſchuldigen Mitmenſchen nicht zum dritten Mal eſſen koͤnnen, ohne wie Don Carlos zum Marquis Poſa, oder der Parapluiemacher Staberl zu aller Welt, zu ſagen: Sie, ſag’n wir Du zu ein- ander! — Waͤre es wegen unſeres ſonderbaren Deutſchen „Sie“ — denn Deutſchland iſt das Vaterland dieſer Du’s — da wir kein „vous“ und „you“ brauchen, ob wir’s gleich eben ſo gut und geſcheidt koͤnnten, ja unſere Vorfahren es wirklich thaten, ſo moͤchte es eher hingehen. Es iſt aber nichts weni- ger als deßhalb.
Hier helfen nun oft alle Mittel nichts, dem angedrohten Bruderkuß, welcher oft unter Kaͤuen applizirt wird, zu ent- gehen. Alle Schlauheiten des Ueberhoͤrens, des Falſchverſtehens, des Ablenkens, ja ſelbſt ein deutliches: „Ihr Wohl! Sie ſollen leben!“ — ein mit einem andern Nachbar angefangenes Geſpraͤch, ein fingirtes Naſenbluten ꝛc. ꝛc. ſind haͤufig vergebens, einen ſolchen Dutz-Egel ſich vom Leibe zu halten. Das Unabwend- bare geſchieht, und der neue bruͤderliche Freund haͤlt ſich von dieſem ungluͤckſeligen Augenblick an fuͤr berechtigt, ruͤckſichtslos grob zu ſein. Wohl dem, welchen die Natur ſo conſtruirte, daß er mit eherner Bruſt zu ſagen vermag: „ich danke ſchoͤnſtens;
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vorgekommen ſein, daß bei gewiſſen feſtlichen Eſſen ein Freund
den andern denunzirte, dieſer haͤtte nicht laut genug geſchrieen:
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welches nicht ohne das groͤßte Mißfallen vermerkt werden
konnte. Bei ſo viel gemachtem, forcirtem und ſurveillirtem Ge-
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iſt, in ein ſehr appetitſtoͤrendes Mißbehagen verſetzt, und leert
lieber ſein Glas wahr und aufrichtig im Stillen, oder unter
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einem andern Menſchen jener unlauteren lauten Claſſe beige-
zaͤhlt zu werden.
Noch hab’ ich derjenigen jungen und alten gemuͤthlichen
Seelen zu erwaͤhnen, welche mit irgend einem unſchuldigen
Mitmenſchen nicht zum dritten Mal eſſen koͤnnen, ohne wie
Don Carlos zum Marquis Poſa, oder der Parapluiemacher
Staberl zu aller Welt, zu ſagen: Sie, ſag’n wir Du zu ein-
ander! — Waͤre es wegen unſeres ſonderbaren Deutſchen
„Sie“ — denn Deutſchland iſt das Vaterland dieſer Du’s —
da wir kein „vous“ und „you“ brauchen, ob wir’s gleich
eben ſo gut und geſcheidt koͤnnten, ja unſere Vorfahren es wirklich
thaten, ſo moͤchte es eher hingehen. Es iſt aber nichts weni-
ger als deßhalb.
Hier helfen nun oft alle Mittel nichts, dem angedrohten
Bruderkuß, welcher oft unter Kaͤuen applizirt wird, zu ent-
gehen. Alle Schlauheiten des Ueberhoͤrens, des Falſchverſtehens,
des Ablenkens, ja ſelbſt ein deutliches: „Ihr Wohl! Sie ſollen
leben!“ — ein mit einem andern Nachbar angefangenes Geſpraͤch,
ein fingirtes Naſenbluten ꝛc. ꝛc. ſind haͤufig vergebens, einen
ſolchen Dutz-Egel ſich vom Leibe zu halten. Das Unabwend-
bare geſchieht, und der neue bruͤderliche Freund haͤlt ſich von
dieſem ungluͤckſeligen Augenblick an fuͤr berechtigt, ruͤckſichtslos
grob zu ſein. Wohl dem, welchen die Natur ſo conſtruirte,
daß er mit eherner Bruſt zu ſagen vermag: „ich danke ſchoͤnſtens;
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/277>, abgerufen am 23.07.2024.
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