Es giebt sonderbare Menschen. Im 3ten Theil der 1806 zu Augsburg erschienenen Unterhaltungen über den Menschen sagt der Verfasser: "Welcher Nachdenkende könnte ohne Weh- muth, daß der Mensch sich so sehr von einfacher Natur entfer- nen konnte, einen Speisezettel bei dem Restaurateur Very in Paris lesen und darauf 150 Speisen, 55 feine Weine und 25 Liqueurs finden?" -- Es ist gar nicht zu begreifen, wie man hier Wehmuth empfinden soll, es müßte denn darüber sein, daß man nicht gleich alle 150 Speisen essen kann.
Andere eifern gegen das Essen, weil sie sich den Magen verdorben haben; der frommen Füchse nicht zu gedenken, wel- che die zu hoch hängenden Trauben als sauer verschreien.
Eine große Menge derer, welche wohl schmecken und den- ken könnten, lungern und hungern, durch allerlei transcenden- ten Wahn verblendet, äffenden ungenießbaren Schaugerichten nach und halten wirkliches Essen für gemeine Nothdurft, wel- cher unterworfen zu sein sie schmerzlichst beklagen. Daß man beim Essen die Lachmuskeln in Bewegung setzen muß, ist ihnen ein Gräuel; sie möchten gern die langgezognen ernsthaften Mie- nen auch beim Essen beibehalten, und bedenken nicht, daß nur das Thier stets ernsthaft ist, Lachen aber, wie Kochen, zu den Vorzügen des Menschen gehört. Uebrigens vergessen die Leute, daß es ja nur an ihnen liegt, wenn sie im Essen nichts Tieferes sehen. Man höre Novalis und nehme ein Exempel dran: "Das Essen ist ein accentuirtes Leben. Essen, Trinken und Athmen entspricht der dreifachen Abtheilung der Körper in fe- ste, flüssige und luftige. Der ganze Körper athmet, nur die Lippen essen und trinken; gerade das Organ, das in mannich- fachen Tönen das wieder aussendet, was der Geist bereitet und durch die übrigen Sinne empfangen hat. Die Lippen sind für die Geselligkeit so viel: wie sehr verdienen sie den Kuß! Jede sanfte weiche Erhöhung ist ein symbolischer Wunsch der Be- rührung. So ladet uns Alles in der Natur figürlich und be-
Es giebt ſonderbare Menſchen. Im 3ten Theil der 1806 zu Augsburg erſchienenen Unterhaltungen uͤber den Menſchen ſagt der Verfaſſer: „Welcher Nachdenkende koͤnnte ohne Weh- muth, daß der Menſch ſich ſo ſehr von einfacher Natur entfer- nen konnte, einen Speiſezettel bei dem Reſtaurateur Very in Paris leſen und darauf 150 Speiſen, 55 feine Weine und 25 Liqueurs finden?“ — Es iſt gar nicht zu begreifen, wie man hier Wehmuth empfinden ſoll, es muͤßte denn daruͤber ſein, daß man nicht gleich alle 150 Speiſen eſſen kann.
Andere eifern gegen das Eſſen, weil ſie ſich den Magen verdorben haben; der frommen Fuͤchſe nicht zu gedenken, wel- che die zu hoch haͤngenden Trauben als ſauer verſchreien.
Eine große Menge derer, welche wohl ſchmecken und den- ken koͤnnten, lungern und hungern, durch allerlei transcenden- ten Wahn verblendet, aͤffenden ungenießbaren Schaugerichten nach und halten wirkliches Eſſen fuͤr gemeine Nothdurft, wel- cher unterworfen zu ſein ſie ſchmerzlichſt beklagen. Daß man beim Eſſen die Lachmuskeln in Bewegung ſetzen muß, iſt ihnen ein Graͤuel; ſie moͤchten gern die langgezognen ernſthaften Mie- nen auch beim Eſſen beibehalten, und bedenken nicht, daß nur das Thier ſtets ernſthaft iſt, Lachen aber, wie Kochen, zu den Vorzuͤgen des Menſchen gehoͤrt. Uebrigens vergeſſen die Leute, daß es ja nur an ihnen liegt, wenn ſie im Eſſen nichts Tieferes ſehen. Man hoͤre Novalis und nehme ein Exempel dran: „Das Eſſen iſt ein accentuirtes Leben. Eſſen, Trinken und Athmen entſpricht der dreifachen Abtheilung der Koͤrper in fe- ſte, fluͤſſige und luftige. Der ganze Koͤrper athmet, nur die Lippen eſſen und trinken; gerade das Organ, das in mannich- fachen Toͤnen das wieder ausſendet, was der Geiſt bereitet und durch die uͤbrigen Sinne empfangen hat. Die Lippen ſind fuͤr die Geſelligkeit ſo viel: wie ſehr verdienen ſie den Kuß! Jede ſanfte weiche Erhoͤhung iſt ein ſymboliſcher Wunſch der Be- ruͤhrung. So ladet uns Alles in der Natur figuͤrlich und be-
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Es giebt ſonderbare Menſchen. Im 3ten Theil der 1806
zu Augsburg erſchienenen Unterhaltungen uͤber den Menſchen
ſagt der Verfaſſer: „Welcher Nachdenkende koͤnnte ohne Weh-
muth, daß der Menſch ſich ſo ſehr von einfacher Natur entfer-
nen konnte, einen Speiſezettel bei dem Reſtaurateur Very in
Paris leſen und darauf 150 Speiſen, 55 feine Weine und 25
Liqueurs finden?“ — Es iſt gar nicht zu begreifen, wie man
hier Wehmuth empfinden ſoll, es muͤßte denn daruͤber ſein,
daß man nicht gleich alle 150 Speiſen eſſen kann.
Andere eifern gegen das Eſſen, weil ſie ſich den Magen
verdorben haben; der frommen Fuͤchſe nicht zu gedenken, wel-
che die zu hoch haͤngenden Trauben als ſauer verſchreien.
Eine große Menge derer, welche wohl ſchmecken und den-
ken koͤnnten, lungern und hungern, durch allerlei transcenden-
ten Wahn verblendet, aͤffenden ungenießbaren Schaugerichten
nach und halten wirkliches Eſſen fuͤr gemeine Nothdurft, wel-
cher unterworfen zu ſein ſie ſchmerzlichſt beklagen. Daß man
beim Eſſen die Lachmuskeln in Bewegung ſetzen muß, iſt ihnen
ein Graͤuel; ſie moͤchten gern die langgezognen ernſthaften Mie-
nen auch beim Eſſen beibehalten, und bedenken nicht, daß nur
das Thier ſtets ernſthaft iſt, Lachen aber, wie Kochen, zu den
Vorzuͤgen des Menſchen gehoͤrt. Uebrigens vergeſſen die Leute,
daß es ja nur an ihnen liegt, wenn ſie im Eſſen nichts Tieferes
ſehen. Man hoͤre Novalis und nehme ein Exempel dran:
„Das Eſſen iſt ein accentuirtes Leben. Eſſen, Trinken und
Athmen entſpricht der dreifachen Abtheilung der Koͤrper in fe-
ſte, fluͤſſige und luftige. Der ganze Koͤrper athmet, nur die
Lippen eſſen und trinken; gerade das Organ, das in mannich-
fachen Toͤnen das wieder ausſendet, was der Geiſt bereitet und
durch die uͤbrigen Sinne empfangen hat. Die Lippen ſind fuͤr
die Geſelligkeit ſo viel: wie ſehr verdienen ſie den Kuß! Jede
ſanfte weiche Erhoͤhung iſt ein ſymboliſcher Wunſch der Be-
ruͤhrung. So ladet uns Alles in der Natur figuͤrlich und be-
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/23>, abgerufen am 23.07.2024.
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