nicht die Zunge zu verbrennen, und so für die ganze Mahlzeit geschmacks-, genuß- und urtheilsunfähig sich zu machen. Einem solchen Höllenzustand kann nur durch convenirendes Blasen auf den, mit Suppe halbgefüllten ersten Löffel vorgebeugt werden. Dieses nun, in Betracht der unaussprechlichen Wichtigkeit gleich- wohl für unschicklich zu halten, beurkundet spießbürgerliche Be- schränktheit und gänzlichen Mangel an Eßsinn und Wissenschaft- lichkeit. Der Eßkünstler wird sich um so weniger an dieses Ge- bot kehren, als bei dem angerathenen Warten unverantwortli- cher Weise gar nicht bedacht ist, wie leicht hier die beste Zeit, die Suppe möglichst warm zu genießen, versäumt, der Genuß also geradezu verfehlt werden könne. Was wäre dieß auch für ein trister, ja trostloser Anblick: eine ganze Tafel tortalisch war- tender Esser! -- Ist es doch selbst bei dem Hilfsmittel des Bla- sens noch schmerzlich zu beklagen, daß man sich, bei Mangel nöthiger Vorsicht und Selbstbeherrschung, auch noch beim zwei- ten und dritten Löffel verbrennen kann! Auch da darf Vorsicht und Plan dem für sich seienden und als solchen gedankenlosen Genuß nicht weichen. Wie klar wird hierdurch allein die Be- deutung der Eßkunst! Wie viel kann der denkende Esser nur z. B. aus der in der sechsten Vorlesung gegebenen Physiologie der Zunge für den fraglichen Fall mit größtem Nutzen in An- wendung bringen!
Dem Rath Zobel's, auf das Knochenmark zu verzichten, wird kein Eßkünstler Folge geben, sondern gegentheils auf jede zulässige Art sich desselben zu bemächtigen trachten.
Während jene Eßregeln die peinlichste gene, einen durch- aus störenden, rücksichtsvollen steifen Zwang zur Pflicht machen, strebt der wahre Künstler durchaus nach möglicher Freiheit. Dieß allerdings innerhalb der ästhetischen Schranken; aber un- bekümmert um Herkommen, Gewohnheit und Spießbürgerlich- keit, sei es nun, daß er dieser in den größten Städten, oder in den kleinsten Nestern begegnet.
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nicht die Zunge zu verbrennen, und ſo fuͤr die ganze Mahlzeit geſchmacks-, genuß- und urtheilsunfaͤhig ſich zu machen. Einem ſolchen Hoͤllenzuſtand kann nur durch convenirendes Blaſen auf den, mit Suppe halbgefuͤllten erſten Loͤffel vorgebeugt werden. Dieſes nun, in Betracht der unausſprechlichen Wichtigkeit gleich- wohl fuͤr unſchicklich zu halten, beurkundet ſpießbuͤrgerliche Be- ſchraͤnktheit und gaͤnzlichen Mangel an Eßſinn und Wiſſenſchaft- lichkeit. Der Eßkuͤnſtler wird ſich um ſo weniger an dieſes Ge- bot kehren, als bei dem angerathenen Warten unverantwortli- cher Weiſe gar nicht bedacht iſt, wie leicht hier die beſte Zeit, die Suppe moͤglichſt warm zu genießen, verſaͤumt, der Genuß alſo geradezu verfehlt werden koͤnne. Was waͤre dieß auch fuͤr ein triſter, ja troſtloſer Anblick: eine ganze Tafel tortaliſch war- tender Eſſer! — Iſt es doch ſelbſt bei dem Hilfsmittel des Bla- ſens noch ſchmerzlich zu beklagen, daß man ſich, bei Mangel noͤthiger Vorſicht und Selbſtbeherrſchung, auch noch beim zwei- ten und dritten Loͤffel verbrennen kann! Auch da darf Vorſicht und Plan dem fuͤr ſich ſeienden und als ſolchen gedankenloſen Genuß nicht weichen. Wie klar wird hierdurch allein die Be- deutung der Eßkunſt! Wie viel kann der denkende Eſſer nur z. B. aus der in der ſechſten Vorleſung gegebenen Phyſiologie der Zunge fuͤr den fraglichen Fall mit groͤßtem Nutzen in An- wendung bringen!
Dem Rath Zobel’s, auf das Knochenmark zu verzichten, wird kein Eßkuͤnſtler Folge geben, ſondern gegentheils auf jede zulaͤſſige Art ſich deſſelben zu bemaͤchtigen trachten.
Waͤhrend jene Eßregeln die peinlichſte gêne, einen durch- aus ſtoͤrenden, ruͤckſichtsvollen ſteifen Zwang zur Pflicht machen, ſtrebt der wahre Kuͤnſtler durchaus nach moͤglicher Freiheit. Dieß allerdings innerhalb der aͤſthetiſchen Schranken; aber un- bekuͤmmert um Herkommen, Gewohnheit und Spießbuͤrgerlich- keit, ſei es nun, daß er dieſer in den groͤßten Staͤdten, oder in den kleinſten Neſtern begegnet.
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nicht die Zunge zu verbrennen, und ſo fuͤr die ganze Mahlzeit
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ſolchen Hoͤllenzuſtand kann nur durch convenirendes Blaſen auf
den, mit Suppe halbgefuͤllten erſten Loͤffel vorgebeugt werden.
Dieſes nun, in Betracht der unausſprechlichen Wichtigkeit gleich-
wohl fuͤr unſchicklich zu halten, beurkundet ſpießbuͤrgerliche Be-
ſchraͤnktheit und gaͤnzlichen Mangel an Eßſinn und Wiſſenſchaft-
lichkeit. Der Eßkuͤnſtler wird ſich um ſo weniger an dieſes Ge-
bot kehren, als bei dem angerathenen Warten unverantwortli-
cher Weiſe gar nicht bedacht iſt, wie leicht hier die beſte Zeit,
die Suppe moͤglichſt warm zu genießen, verſaͤumt, der Genuß
alſo geradezu verfehlt werden koͤnne. Was waͤre dieß auch fuͤr
ein triſter, ja troſtloſer Anblick: eine ganze Tafel tortaliſch war-
tender Eſſer! — Iſt es doch ſelbſt bei dem Hilfsmittel des Bla-
ſens noch ſchmerzlich zu beklagen, daß man ſich, bei Mangel
noͤthiger Vorſicht und Selbſtbeherrſchung, auch noch beim zwei-
ten und dritten Loͤffel verbrennen kann! Auch da darf Vorſicht
und Plan dem fuͤr ſich ſeienden und als ſolchen gedankenloſen
Genuß nicht weichen. Wie klar wird hierdurch allein die Be-
deutung der Eßkunſt! Wie viel kann der denkende Eſſer nur
z. B. aus der in der ſechſten Vorleſung gegebenen Phyſiologie
der Zunge fuͤr den fraglichen Fall mit groͤßtem Nutzen in An-
wendung bringen!
Dem Rath Zobel’s, auf das Knochenmark zu verzichten,
wird kein Eßkuͤnſtler Folge geben, ſondern gegentheils auf jede
zulaͤſſige Art ſich deſſelben zu bemaͤchtigen trachten.
Waͤhrend jene Eßregeln die peinlichſte gêne, einen durch-
aus ſtoͤrenden, ruͤckſichtsvollen ſteifen Zwang zur Pflicht machen,
ſtrebt der wahre Kuͤnſtler durchaus nach moͤglicher Freiheit.
Dieß allerdings innerhalb der aͤſthetiſchen Schranken; aber un-
bekuͤmmert um Herkommen, Gewohnheit und Spießbuͤrgerlich-
keit, ſei es nun, daß er dieſer in den groͤßten Staͤdten, oder in
den kleinſten Neſtern begegnet.
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/207>, abgerufen am 23.07.2024.
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