Sie waren das Blei, welches sich der Tänzer Vestris an die Füße band, um dann, davon befreit, um so höher und leichter zu tanzen.
Die angeführten Schriftsteller stimmen z. B. darin überein, man solle nicht zuerst, sondern zuletzt in die Schüssel langen, dagegen aber am ersten zu essen aufhören. Man sieht ohne großes Nachdenken, daß, da diese Gebote an Alle gestellt sind, sie theils unmöglich erfüllt werden können, theils durch das Be- streben, denselben nachzukommen, das Essen auf der einen Seite eben so lange hinausgeschoben, als auf der andern ungebührlich abgekürzt würde. Zum Glück ist der Sache durch die neuere zweckmäßige Einrichtung, die Suppe den einzelnen Gästen je auf den Tellern zu geben oder durch Diener geben zu lassen, heutzutage erledigt. Durch diese Einrichtung ist zugleich die Nichterfüllung eines andern lästigen Gebotes: "nicht den besten Bissen herauszusuchen" bedeutend erleichtert. Bleiben nämlich die Schüsseln und Präsentirteller nach alter Art auf dem Tisch stehen, so ist freilich nichts übrig, als zu resigniren und, gegen Sirach's sonderbares Gebot, den nächsten (oft leider nicht besten) Bissen zu nehmen, da oft selbst ein beträchtlicher Aufwand raf- finirter Kriegslist nicht ohne aufzufallen zum Ziele führt. Geht aber die Schüssel herum, sei es nun, daß dieselbe von einem Gast dem andern gereicht, oder durch Diener herumgegeben wird, so kann man, nach der Rechtsregel: Melior est praevenire, quam praeveniri, mit nur einiger Gewandtheit und rascher Entschlos- senheit leicht und unbemerkt sich des besten Bissens bemächtigen. Freilich ist dazu eine alles zehn Mal umwendende, hinten und vorn beschauende Bedächtlichkeit durchaus ungeeignet.
Von den genannten Auktoren wird ferner das Blasen der Suppe theils ganz untersagt, theils sehr beschränkt erlaubt. -- Es ist aber gar nichts wichtiger, als, nachdem man sich zu Tisch gesetzt, mit kluger Vorsicht den ersten Löffel Suppe zu sich zu nehmen, -- wie bedeutend ist das: zu Sich nehmen! -- um sich
Sie waren das Blei, welches ſich der Taͤnzer Veſtris an die Fuͤße band, um dann, davon befreit, um ſo hoͤher und leichter zu tanzen.
Die angefuͤhrten Schriftſteller ſtimmen z. B. darin uͤberein, man ſolle nicht zuerſt, ſondern zuletzt in die Schuͤſſel langen, dagegen aber am erſten zu eſſen aufhoͤren. Man ſieht ohne großes Nachdenken, daß, da dieſe Gebote an Alle geſtellt ſind, ſie theils unmoͤglich erfuͤllt werden koͤnnen, theils durch das Be- ſtreben, denſelben nachzukommen, das Eſſen auf der einen Seite eben ſo lange hinausgeſchoben, als auf der andern ungebuͤhrlich abgekuͤrzt wuͤrde. Zum Gluͤck iſt der Sache durch die neuere zweckmaͤßige Einrichtung, die Suppe den einzelnen Gaͤſten je auf den Tellern zu geben oder durch Diener geben zu laſſen, heutzutage erledigt. Durch dieſe Einrichtung iſt zugleich die Nichterfuͤllung eines andern laͤſtigen Gebotes: „nicht den beſten Biſſen herauszuſuchen“ bedeutend erleichtert. Bleiben naͤmlich die Schuͤſſeln und Praͤſentirteller nach alter Art auf dem Tiſch ſtehen, ſo iſt freilich nichts uͤbrig, als zu reſigniren und, gegen Sirach’s ſonderbares Gebot, den naͤchſten (oft leider nicht beſten) Biſſen zu nehmen, da oft ſelbſt ein betraͤchtlicher Aufwand raf- finirter Kriegsliſt nicht ohne aufzufallen zum Ziele fuͤhrt. Geht aber die Schuͤſſel herum, ſei es nun, daß dieſelbe von einem Gaſt dem andern gereicht, oder durch Diener herumgegeben wird, ſo kann man, nach der Rechtsregel: Melior est praevenire, quam praeveniri, mit nur einiger Gewandtheit und raſcher Entſchloſ- ſenheit leicht und unbemerkt ſich des beſten Biſſens bemaͤchtigen. Freilich iſt dazu eine alles zehn Mal umwendende, hinten und vorn beſchauende Bedaͤchtlichkeit durchaus ungeeignet.
Von den genannten Auktoren wird ferner das Blaſen der Suppe theils ganz unterſagt, theils ſehr beſchraͤnkt erlaubt. — Es iſt aber gar nichts wichtiger, als, nachdem man ſich zu Tiſch geſetzt, mit kluger Vorſicht den erſten Loͤffel Suppe zu ſich zu nehmen, — wie bedeutend iſt das: zu Sich nehmen! — um ſich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0206"n="192"/>
Sie waren das Blei, welches ſich der Taͤnzer <hirendition="#g">Veſtris</hi> an die<lb/>
Fuͤße band, um dann, davon befreit, um ſo hoͤher und leichter<lb/>
zu tanzen.</p><lb/><p>Die angefuͤhrten Schriftſteller ſtimmen z. B. darin uͤberein,<lb/>
man ſolle nicht zuerſt, ſondern zuletzt in die Schuͤſſel langen,<lb/>
dagegen aber am erſten zu eſſen aufhoͤren. Man ſieht ohne<lb/>
großes Nachdenken, daß, da dieſe Gebote an Alle geſtellt ſind,<lb/>ſie theils unmoͤglich erfuͤllt werden koͤnnen, theils durch das Be-<lb/>ſtreben, denſelben nachzukommen, das Eſſen auf der einen Seite<lb/>
eben ſo lange hinausgeſchoben, als auf der andern ungebuͤhrlich<lb/>
abgekuͤrzt wuͤrde. Zum Gluͤck iſt der Sache durch die neuere<lb/>
zweckmaͤßige Einrichtung, die Suppe den einzelnen Gaͤſten je<lb/>
auf den Tellern zu geben oder durch Diener geben zu laſſen,<lb/>
heutzutage erledigt. Durch dieſe Einrichtung iſt zugleich die<lb/>
Nichterfuͤllung eines andern laͤſtigen Gebotes: „nicht den beſten<lb/>
Biſſen herauszuſuchen“ bedeutend erleichtert. Bleiben naͤmlich<lb/>
die Schuͤſſeln und Praͤſentirteller nach alter Art auf dem Tiſch<lb/>ſtehen, ſo iſt freilich nichts uͤbrig, als zu reſigniren und, gegen<lb/><hirendition="#g">Sirach</hi>’s ſonderbares Gebot, den naͤchſten (oft leider nicht beſten)<lb/>
Biſſen zu nehmen, da oft ſelbſt ein betraͤchtlicher Aufwand raf-<lb/>
finirter Kriegsliſt nicht ohne aufzufallen zum Ziele fuͤhrt. Geht<lb/>
aber die Schuͤſſel herum, ſei es nun, daß dieſelbe von einem Gaſt<lb/>
dem andern gereicht, oder durch Diener herumgegeben wird, ſo<lb/>
kann man, nach der Rechtsregel: <hirendition="#aq">Melior est praevenire, quam<lb/>
praeveniri,</hi> mit nur einiger Gewandtheit und raſcher Entſchloſ-<lb/>ſenheit leicht und unbemerkt ſich des beſten Biſſens bemaͤchtigen.<lb/>
Freilich iſt dazu eine alles zehn Mal umwendende, hinten und<lb/>
vorn beſchauende Bedaͤchtlichkeit durchaus ungeeignet.</p><lb/><p>Von den genannten Auktoren wird ferner das Blaſen der<lb/>
Suppe theils ganz unterſagt, theils ſehr beſchraͤnkt erlaubt. —<lb/>
Es iſt aber gar nichts wichtiger, als, nachdem man ſich zu Tiſch<lb/>
geſetzt, mit kluger Vorſicht den erſten Loͤffel Suppe zu ſich zu<lb/>
nehmen, — wie bedeutend iſt das: zu Sich nehmen! — um ſich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[192/0206]
Sie waren das Blei, welches ſich der Taͤnzer Veſtris an die
Fuͤße band, um dann, davon befreit, um ſo hoͤher und leichter
zu tanzen.
Die angefuͤhrten Schriftſteller ſtimmen z. B. darin uͤberein,
man ſolle nicht zuerſt, ſondern zuletzt in die Schuͤſſel langen,
dagegen aber am erſten zu eſſen aufhoͤren. Man ſieht ohne
großes Nachdenken, daß, da dieſe Gebote an Alle geſtellt ſind,
ſie theils unmoͤglich erfuͤllt werden koͤnnen, theils durch das Be-
ſtreben, denſelben nachzukommen, das Eſſen auf der einen Seite
eben ſo lange hinausgeſchoben, als auf der andern ungebuͤhrlich
abgekuͤrzt wuͤrde. Zum Gluͤck iſt der Sache durch die neuere
zweckmaͤßige Einrichtung, die Suppe den einzelnen Gaͤſten je
auf den Tellern zu geben oder durch Diener geben zu laſſen,
heutzutage erledigt. Durch dieſe Einrichtung iſt zugleich die
Nichterfuͤllung eines andern laͤſtigen Gebotes: „nicht den beſten
Biſſen herauszuſuchen“ bedeutend erleichtert. Bleiben naͤmlich
die Schuͤſſeln und Praͤſentirteller nach alter Art auf dem Tiſch
ſtehen, ſo iſt freilich nichts uͤbrig, als zu reſigniren und, gegen
Sirach’s ſonderbares Gebot, den naͤchſten (oft leider nicht beſten)
Biſſen zu nehmen, da oft ſelbſt ein betraͤchtlicher Aufwand raf-
finirter Kriegsliſt nicht ohne aufzufallen zum Ziele fuͤhrt. Geht
aber die Schuͤſſel herum, ſei es nun, daß dieſelbe von einem Gaſt
dem andern gereicht, oder durch Diener herumgegeben wird, ſo
kann man, nach der Rechtsregel: Melior est praevenire, quam
praeveniri, mit nur einiger Gewandtheit und raſcher Entſchloſ-
ſenheit leicht und unbemerkt ſich des beſten Biſſens bemaͤchtigen.
Freilich iſt dazu eine alles zehn Mal umwendende, hinten und
vorn beſchauende Bedaͤchtlichkeit durchaus ungeeignet.
Von den genannten Auktoren wird ferner das Blaſen der
Suppe theils ganz unterſagt, theils ſehr beſchraͤnkt erlaubt. —
Es iſt aber gar nichts wichtiger, als, nachdem man ſich zu Tiſch
geſetzt, mit kluger Vorſicht den erſten Loͤffel Suppe zu ſich zu
nehmen, — wie bedeutend iſt das: zu Sich nehmen! — um ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/206>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.