Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.läßt sie Kamm und Hirn, das Delikateste, unberührt liegen, Sieht so ein noch nicht zum Eßkünstler gereifter Mensch Buchstäblich zu beherzigen ist Goethe's Rath: "Du mußt dich niemals mit Schwur vermessen: Von dieser Speise will ich nicht essen." Ad semel renunciatum non amplius datur regressus, sagt Es sind nun bald funfzig Jahre, daß ich einmal morgens laͤßt ſie Kamm und Hirn, das Delikateſte, unberuͤhrt liegen, Sieht ſo ein noch nicht zum Eßkuͤnſtler gereifter Menſch Buchſtaͤblich zu beherzigen iſt Goethe’s Rath: „Du mußt dich niemals mit Schwur vermeſſen: Von dieſer Speiſe will ich nicht eſſen.“ Ad semel renunciatum non amplius datur regressus, ſagt Es ſind nun bald funfzig Jahre, daß ich einmal morgens <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0197" n="183"/> laͤßt ſie Kamm und Hirn, das Delikateſte, unberuͤhrt liegen,<lb/> eben ſo beim Braten das, in der auseinander gehauenen Ruͤcken-<lb/> wirbelhoͤhle liegende, lieblich ſchmeckende Ruͤckenmark. Das<lb/> beſte am Knochen haftende Fleiſch bleibt ungegeſſen, weil man<lb/> ſich durch zu ſorgfaͤltiges Abpraͤpariren zu compromittiren<lb/> fuͤrchtet, und ſo hundert andere Dinge mehr. Man erkennt<lb/> uͤberhaupt den Nichteßkuͤnſtler beſonders an dem, was er<lb/> nicht ißt.</p><lb/> <p>Sieht ſo ein noch nicht zum Eßkuͤnſtler gereifter Menſch<lb/> etwa die Koͤchin ſchnupfen, — ich ziehe Koͤchinnen Koͤche vor<lb/> — bemerkt er zufaͤllig ein zartes langes, oder gekraͤuſeltes<lb/> kurzes Frauenhaar in der Suppe, ein kleines Raͤuplein im<lb/> Blumenkohl oder dergleichen, ſo kann das liebe Herz nichts<lb/> mehr eſſen, oder es wird ihm gar uͤbel. Sehr richtig ſagt<lb/> Mephiſtopheles: Wer fragt darnach in einer Schaͤferſtunde? —</p><lb/> <p>Buchſtaͤblich zu beherzigen iſt <hi rendition="#g">Goethe</hi>’s Rath:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Du mußt dich niemals mit Schwur vermeſſen:</l><lb/> <l>Von dieſer Speiſe will ich nicht eſſen.“</l> </lg><lb/> <p><hi rendition="#aq">Ad semel renunciatum non amplius datur regressus,</hi> ſagt<lb/> das <hi rendition="#aq">Corpus juris.</hi> — Von gleicher Unerfahrenheit zeugt es,<lb/> ein erhaltenes Stuͤck als zu groß zu beſchreien. Biſt du denn<lb/> ſicher, unbeſonnener Juͤngling, ob ſich durch Eſſenſehen und<lb/> Selbereſſen nicht dein Appetit ſo vollkommen entwickelt, um<lb/> ſich deinen unbedachtſamen Worten nicht ſchnurſtracks und<lb/> quaͤlend entgegenzuſetzen? Kennſt du die giftigen Schlangenbiſſe<lb/> der Reue?</p><lb/> <p>Es ſind nun bald funfzig Jahre, daß ich einmal morgens<lb/> in ein befreundetes Haus kam, wo man gerade auf das Freund-<lb/> lichſte mit einem Gabelfruͤhſtuͤck der exquiſiteſten Neunaugen<lb/> beſchaͤftigt war. Man lud mich ein, und ich — es iſt mir nun<lb/> faſt unbegreiflich, warum eigentlich? — jung, dumm und un-<lb/> erfahren, gab beſtimmt abſchlaͤgige Antwort. Vergebens hoffte<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [183/0197]
laͤßt ſie Kamm und Hirn, das Delikateſte, unberuͤhrt liegen,
eben ſo beim Braten das, in der auseinander gehauenen Ruͤcken-
wirbelhoͤhle liegende, lieblich ſchmeckende Ruͤckenmark. Das
beſte am Knochen haftende Fleiſch bleibt ungegeſſen, weil man
ſich durch zu ſorgfaͤltiges Abpraͤpariren zu compromittiren
fuͤrchtet, und ſo hundert andere Dinge mehr. Man erkennt
uͤberhaupt den Nichteßkuͤnſtler beſonders an dem, was er
nicht ißt.
Sieht ſo ein noch nicht zum Eßkuͤnſtler gereifter Menſch
etwa die Koͤchin ſchnupfen, — ich ziehe Koͤchinnen Koͤche vor
— bemerkt er zufaͤllig ein zartes langes, oder gekraͤuſeltes
kurzes Frauenhaar in der Suppe, ein kleines Raͤuplein im
Blumenkohl oder dergleichen, ſo kann das liebe Herz nichts
mehr eſſen, oder es wird ihm gar uͤbel. Sehr richtig ſagt
Mephiſtopheles: Wer fragt darnach in einer Schaͤferſtunde? —
Buchſtaͤblich zu beherzigen iſt Goethe’s Rath:
„Du mußt dich niemals mit Schwur vermeſſen:
Von dieſer Speiſe will ich nicht eſſen.“
Ad semel renunciatum non amplius datur regressus, ſagt
das Corpus juris. — Von gleicher Unerfahrenheit zeugt es,
ein erhaltenes Stuͤck als zu groß zu beſchreien. Biſt du denn
ſicher, unbeſonnener Juͤngling, ob ſich durch Eſſenſehen und
Selbereſſen nicht dein Appetit ſo vollkommen entwickelt, um
ſich deinen unbedachtſamen Worten nicht ſchnurſtracks und
quaͤlend entgegenzuſetzen? Kennſt du die giftigen Schlangenbiſſe
der Reue?
Es ſind nun bald funfzig Jahre, daß ich einmal morgens
in ein befreundetes Haus kam, wo man gerade auf das Freund-
lichſte mit einem Gabelfruͤhſtuͤck der exquiſiteſten Neunaugen
beſchaͤftigt war. Man lud mich ein, und ich — es iſt mir nun
faſt unbegreiflich, warum eigentlich? — jung, dumm und un-
erfahren, gab beſtimmt abſchlaͤgige Antwort. Vergebens hoffte
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