welches man aber nicht blos mit Wasser, sondern auch, nach Bedarf, von Zeit zu Zeit mit Weingeist reinigt.
Hufeland räth ferner, sobald man den ersten cariösen Zahn bemerkt, soll man ihn sogleich herausnehmen lassen; -- man sage niemals "herausreißen" weil dieser Ausdruck den Zahnkünstlern sehr anstößig ist -- denn sonst steckt er die übri- gen an. Die Akten über hierher gehörige Erfahrungen sind aber, wie man überall so schön sagt, noch nicht geschlossen; im Gegentheil werden in hundert Fällen andere Zähne ergriffen, auch wenn der ersterkrankte gleich ausgezogen wurde. Es ist daher viel gescheidter, Hildebrandt's Rath zu folgen, nämlich: zur Beseitigung des Zahnschmerzes eher alle andere Mittel (gegen verdorbene Verdauung, Unordnung im Gallensystem, Erkältung, Rheuma, Vollblütigkeit, Wallung, Blutzudrang, Entzündung etc. etc.) anzuwenden und das Ausziehen des Zahnes nur als al- lerletztes trauriges Mittel zu gebrauchen. Es ist unverantwort- lich, wie leichtsinnig und unbedenklich die Aerzte andern Leuten die Zähne herausreißen lassen. Wohlgemerkt: Ein Zahn ist höher zu achten, als ein Diamant. Leider erkennt und fühlt man die tiefe Wahrheit dieses Ausspruches, wenn es zu spät ist, wie eben der gute Don Quixote auch erst durch einen gewissen Steinwurf grober, unritterlicher Schäfer darauf ge- führt wurde. Statt daß man aber diese Sentenz einer trau- rigen Elegie zu Grunde legt, wär's gescheidter, einen jauchzen- den Dithyrambus daraus zu machen, und sich möglichst vor der Elegie zu hüten.
So viel über die Zähne. Ich komme nun zur Zunge.
Neuere Versuche über den Geschmackssinn des Menschen lehren: daß die Lippen, der innere Theil der Backen, das Gau- mengewölbe, der Schlund, die Pfeiler des Gaumensegels und die untere Fläche der Zunge mit den Geschmackswahrnehmungen nichts zu thun haben, und daß die Verrichtungen des Ge- schmackssinnes vorzugsweise auf der hinteren und tieferen Parthie
welches man aber nicht blos mit Waſſer, ſondern auch, nach Bedarf, von Zeit zu Zeit mit Weingeiſt reinigt.
Hufeland raͤth ferner, ſobald man den erſten carioͤſen Zahn bemerkt, ſoll man ihn ſogleich herausnehmen laſſen; — man ſage niemals „herausreißen“ weil dieſer Ausdruck den Zahnkuͤnſtlern ſehr anſtoͤßig iſt — denn ſonſt ſteckt er die uͤbri- gen an. Die Akten uͤber hierher gehoͤrige Erfahrungen ſind aber, wie man uͤberall ſo ſchoͤn ſagt, noch nicht geſchloſſen; im Gegentheil werden in hundert Faͤllen andere Zaͤhne ergriffen, auch wenn der erſterkrankte gleich ausgezogen wurde. Es iſt daher viel geſcheidter, Hildebrandt’s Rath zu folgen, naͤmlich: zur Beſeitigung des Zahnſchmerzes eher alle andere Mittel (gegen verdorbene Verdauung, Unordnung im Gallenſyſtem, Erkaͤltung, Rheuma, Vollbluͤtigkeit, Wallung, Blutzudrang, Entzuͤndung ꝛc. ꝛc.) anzuwenden und das Ausziehen des Zahnes nur als al- lerletztes trauriges Mittel zu gebrauchen. Es iſt unverantwort- lich, wie leichtſinnig und unbedenklich die Aerzte andern Leuten die Zaͤhne herausreißen laſſen. Wohlgemerkt: Ein Zahn iſt hoͤher zu achten, als ein Diamant. Leider erkennt und fuͤhlt man die tiefe Wahrheit dieſes Ausſpruches, wenn es zu ſpaͤt iſt, wie eben der gute Don Quixote auch erſt durch einen gewiſſen Steinwurf grober, unritterlicher Schaͤfer darauf ge- fuͤhrt wurde. Statt daß man aber dieſe Sentenz einer trau- rigen Elegie zu Grunde legt, waͤr’s geſcheidter, einen jauchzen- den Dithyrambus daraus zu machen, und ſich moͤglichſt vor der Elegie zu huͤten.
So viel uͤber die Zaͤhne. Ich komme nun zur Zunge.
Neuere Verſuche uͤber den Geſchmacksſinn des Menſchen lehren: daß die Lippen, der innere Theil der Backen, das Gau- mengewoͤlbe, der Schlund, die Pfeiler des Gaumenſegels und die untere Flaͤche der Zunge mit den Geſchmackswahrnehmungen nichts zu thun haben, und daß die Verrichtungen des Ge- ſchmacksſinnes vorzugsweiſe auf der hinteren und tieferen Parthie
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Hufeland raͤth ferner, ſobald man den erſten carioͤſen
Zahn bemerkt, ſoll man ihn ſogleich herausnehmen laſſen; —
man ſage niemals „herausreißen“ weil dieſer Ausdruck den
Zahnkuͤnſtlern ſehr anſtoͤßig iſt — denn ſonſt ſteckt er die uͤbri-
gen an. Die Akten uͤber hierher gehoͤrige Erfahrungen ſind
aber, wie man uͤberall ſo ſchoͤn ſagt, noch nicht geſchloſſen; im
Gegentheil werden in hundert Faͤllen andere Zaͤhne ergriffen,
auch wenn der erſterkrankte gleich ausgezogen wurde. Es iſt
daher viel geſcheidter, Hildebrandt’s Rath zu folgen, naͤmlich:
zur Beſeitigung des Zahnſchmerzes eher alle andere Mittel (gegen
verdorbene Verdauung, Unordnung im Gallenſyſtem, Erkaͤltung,
Rheuma, Vollbluͤtigkeit, Wallung, Blutzudrang, Entzuͤndung
ꝛc. ꝛc.) anzuwenden und das Ausziehen des Zahnes nur als al-
lerletztes trauriges Mittel zu gebrauchen. Es iſt unverantwort-
lich, wie leichtſinnig und unbedenklich die Aerzte andern Leuten
die Zaͤhne herausreißen laſſen. Wohlgemerkt: Ein Zahn
iſt hoͤher zu achten, als ein Diamant. Leider erkennt und
fuͤhlt man die tiefe Wahrheit dieſes Ausſpruches, wenn es zu
ſpaͤt iſt, wie eben der gute Don Quixote auch erſt durch einen
gewiſſen Steinwurf grober, unritterlicher Schaͤfer darauf ge-
fuͤhrt wurde. Statt daß man aber dieſe Sentenz einer trau-
rigen Elegie zu Grunde legt, waͤr’s geſcheidter, einen jauchzen-
den Dithyrambus daraus zu machen, und ſich moͤglichſt vor
der Elegie zu huͤten.
So viel uͤber die Zaͤhne. Ich komme nun zur Zunge.
Neuere Verſuche uͤber den Geſchmacksſinn des Menſchen
lehren: daß die Lippen, der innere Theil der Backen, das Gau-
mengewoͤlbe, der Schlund, die Pfeiler des Gaumenſegels und
die untere Flaͤche der Zunge mit den Geſchmackswahrnehmungen
nichts zu thun haben, und daß die Verrichtungen des Ge-
ſchmacksſinnes vorzugsweiſe auf der hinteren und tieferen Parthie
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/138>, abgerufen am 23.07.2024.
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