darf. Denn was soll dabei herauskommen? Man ißt deßwe- gen doch, und Jean Paul hat sich's recht wohl schmecken lassen. Ich habe als Kind ein übermäßig rührendes Lied über den Tod (ich weiß nicht mehr) einer erschossenen Lerche oder eines Finken lernen müssen, das ich vor lauter Thränen kaum singen konnte. Es hat auf meinen Eßcharakter nicht den mindesten Einfluß ge- habt. Eine gebratene Lerche und eine singende Lerche sind so himmelweit von einander verschieden, daß man Abends die näm- liche mit dem größten Appetit essen kann, über deren Morgen- lied man Thränen vergossen.
Eine ernste Aufgabe für den Menschen bleibt immer die, wenn er auch nicht gerade so essen kann, daß Andere darüber erfreut zu werden vermöchten, doch wenigstens so zu essen, daß Andere nicht den Appetit verlieren. Das Essen ist aber an sich eine so egoistische Handlung, daß ein gesitteter Mensch alles Mögliche anwendet, sie zu veredeln, wozu denn allerdings auch das positive Bestreben gehört, auch objektiv schön, d. h. Andern erfreulich zu essen.
Die Moral verlangt ferner ein tolerantes Urtheil, wovon ich selber im Verlaufe der Vorlesungen schon sehr unterschied- liche Proben gegeben habe. Es giebt Leute, die durchaus nicht dulden wollen, daß einem Andern etwas schmeckt, woran sie selber kein Behagen finden. Ja ich habe selbst von Personen, die sich für wohlgezogen hielten, über ein, mit liebendem An- theil ausgedrücktes, Lob irgend einer Speise, ein widerliches "Pfui!" -- mir ins Angesicht aussprechen gehört. Ist dieß Feinheit der Gesinnung und Aufführung, ist dieß human und tolerant? -- Umgekehrt aber wollen Andere, es solle durchaus jedem das schmecken, was ihnen selbst behagt und wär's Teu- felsdreck. Beides ist, mit aller Toleranz sei es gesagt, durch- aus verwerflich.
So verwerfen auch manche gar zu riguröse Leute das Re- den über das Essen ganz und gar, als einem Manne nicht wohl
darf. Denn was ſoll dabei herauskommen? Man ißt deßwe- gen doch, und Jean Paul hat ſich’s recht wohl ſchmecken laſſen. Ich habe als Kind ein uͤbermaͤßig ruͤhrendes Lied uͤber den Tod (ich weiß nicht mehr) einer erſchoſſenen Lerche oder eines Finken lernen muͤſſen, das ich vor lauter Thraͤnen kaum ſingen konnte. Es hat auf meinen Eßcharakter nicht den mindeſten Einfluß ge- habt. Eine gebratene Lerche und eine ſingende Lerche ſind ſo himmelweit von einander verſchieden, daß man Abends die naͤm- liche mit dem groͤßten Appetit eſſen kann, uͤber deren Morgen- lied man Thraͤnen vergoſſen.
Eine ernſte Aufgabe fuͤr den Menſchen bleibt immer die, wenn er auch nicht gerade ſo eſſen kann, daß Andere daruͤber erfreut zu werden vermoͤchten, doch wenigſtens ſo zu eſſen, daß Andere nicht den Appetit verlieren. Das Eſſen iſt aber an ſich eine ſo egoiſtiſche Handlung, daß ein geſitteter Menſch alles Moͤgliche anwendet, ſie zu veredeln, wozu denn allerdings auch das poſitive Beſtreben gehoͤrt, auch objektiv ſchoͤn, d. h. Andern erfreulich zu eſſen.
Die Moral verlangt ferner ein tolerantes Urtheil, wovon ich ſelber im Verlaufe der Vorleſungen ſchon ſehr unterſchied- liche Proben gegeben habe. Es giebt Leute, die durchaus nicht dulden wollen, daß einem Andern etwas ſchmeckt, woran ſie ſelber kein Behagen finden. Ja ich habe ſelbſt von Perſonen, die ſich fuͤr wohlgezogen hielten, uͤber ein, mit liebendem An- theil ausgedruͤcktes, Lob irgend einer Speiſe, ein widerliches „Pfui!“ — mir ins Angeſicht ausſprechen gehoͤrt. Iſt dieß Feinheit der Geſinnung und Auffuͤhrung, iſt dieß human und tolerant? — Umgekehrt aber wollen Andere, es ſolle durchaus jedem das ſchmecken, was ihnen ſelbſt behagt und waͤr’s Teu- felsdreck. Beides iſt, mit aller Toleranz ſei es geſagt, durch- aus verwerflich.
So verwerfen auch manche gar zu riguroͤſe Leute das Re- den uͤber das Eſſen ganz und gar, als einem Manne nicht wohl
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darf. Denn was ſoll dabei herauskommen? Man ißt deßwe-
gen doch, und Jean Paul hat ſich’s recht wohl ſchmecken laſſen.
Ich habe als Kind ein uͤbermaͤßig ruͤhrendes Lied uͤber den Tod
(ich weiß nicht mehr) einer erſchoſſenen Lerche oder eines Finken
lernen muͤſſen, das ich vor lauter Thraͤnen kaum ſingen konnte.
Es hat auf meinen Eßcharakter nicht den mindeſten Einfluß ge-
habt. Eine gebratene Lerche und eine ſingende Lerche ſind ſo
himmelweit von einander verſchieden, daß man Abends die naͤm-
liche mit dem groͤßten Appetit eſſen kann, uͤber deren Morgen-
lied man Thraͤnen vergoſſen.
Eine ernſte Aufgabe fuͤr den Menſchen bleibt immer die,
wenn er auch nicht gerade ſo eſſen kann, daß Andere daruͤber
erfreut zu werden vermoͤchten, doch wenigſtens ſo zu eſſen, daß
Andere nicht den Appetit verlieren. Das Eſſen iſt aber an ſich
eine ſo egoiſtiſche Handlung, daß ein geſitteter Menſch alles
Moͤgliche anwendet, ſie zu veredeln, wozu denn allerdings auch
das poſitive Beſtreben gehoͤrt, auch objektiv ſchoͤn, d. h. Andern
erfreulich zu eſſen.
Die Moral verlangt ferner ein tolerantes Urtheil, wovon
ich ſelber im Verlaufe der Vorleſungen ſchon ſehr unterſchied-
liche Proben gegeben habe. Es giebt Leute, die durchaus nicht
dulden wollen, daß einem Andern etwas ſchmeckt, woran ſie
ſelber kein Behagen finden. Ja ich habe ſelbſt von Perſonen,
die ſich fuͤr wohlgezogen hielten, uͤber ein, mit liebendem An-
theil ausgedruͤcktes, Lob irgend einer Speiſe, ein widerliches
„Pfui!“ — mir ins Angeſicht ausſprechen gehoͤrt. Iſt dieß
Feinheit der Geſinnung und Auffuͤhrung, iſt dieß human und
tolerant? — Umgekehrt aber wollen Andere, es ſolle durchaus
jedem das ſchmecken, was ihnen ſelbſt behagt und waͤr’s Teu-
felsdreck. Beides iſt, mit aller Toleranz ſei es geſagt, durch-
aus verwerflich.
So verwerfen auch manche gar zu riguroͤſe Leute das Re-
den uͤber das Eſſen ganz und gar, als einem Manne nicht wohl
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/124>, abgerufen am 16.02.2025.
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