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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

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den Zähnen knirrschte und in einen kalten Schweiß ausbrach.
Es läßt sich wohl annehmen, daß hier gewisse Reminiscenzen
im Spiele waren. So bekam der Theologe Pechmann, in
Folge pädagogischer Erinnerungen, von Jugend auf vor Besen,
ja vor dem leisesten Streichen eines Besen oder einer Ruthe
die beklemmendsten Schauder und Krämpfe.

Doch genug davon. Aristoteles verlangt von der Tra-
gödie eine Reinigung, Beruhigung der Leidenschaften (katharsis
ton pathematon). Eine gute Mahlzeit entspricht oft diesem
Zwecke viel durchgreifender. Gewiß manche furchtbare That,
Mord, Selbstmord etc., wäre unterblieben, hätte der Thäter
durch ein gutes Mittagessen seine Leidenschaften gereinigt, pur-
girt, abgeleitet, abgeführt.

Der Mensch soll sich nicht geniren zu essen. O Ihr Na-
tur- und Wirklichkeits-Scheuen Hyperidealen, Ihr zarten zim-
perlichen Naturen, gebt doch die dünne Luft Eurer Ueberschweng-
lichkeit auf! Sie kommt weder Euch noch Andern zu gut. Ihr
selbst verfallt über kurz oder lang der Trommelsucht oder der
Auszehrung, und Andere haben den Jammer, es ansehen zu
müssen. Beißt ungenirt ein, schüchterne Jünglinge, haltet das
Essen nicht für gemein; lernt's lieber.

Der Mensch soll mit Heiterkeit und Lust essen, um recht
zu essen. Aus dem schönen Spruche Sirach's: "Einem fröh-
lichen Herzen schmeckt alles wohl, was er isset" ergiebt sich
leicht, warum Heiterkeit schon der in der ersten Vorlesung gege-
benen Definition des Essens einzuverleiben war. Ein gewisser
heiterer Ernst wird den Eßkünstler, der mit Eifer sich seinem
Berufe widmet, nie verlassen. Nur keine Sentimentalität über
Tisch! -- Wenn Jean Paul klagend ausruft: "Himmel, aus
wie vielen Marterstunden der Thiere glühen und löthen die
Menschen eine einzige Festminute der Zunge zusammen!" --
so ist dieß eben ein Gesichtspunkt, aus welchem das Essen ge-
rade nicht angeschaut, am allerwenigsten aber dargestellt werden

den Zaͤhnen knirrſchte und in einen kalten Schweiß ausbrach.
Es laͤßt ſich wohl annehmen, daß hier gewiſſe Reminiscenzen
im Spiele waren. So bekam der Theologe Pechmann, in
Folge paͤdagogiſcher Erinnerungen, von Jugend auf vor Beſen,
ja vor dem leiſeſten Streichen eines Beſen oder einer Ruthe
die beklemmendſten Schauder und Kraͤmpfe.

Doch genug davon. Ariſtoteles verlangt von der Tra-
goͤdie eine Reinigung, Beruhigung der Leidenſchaften (καϑαρσις
των παϑηματων). Eine gute Mahlzeit entſpricht oft dieſem
Zwecke viel durchgreifender. Gewiß manche furchtbare That,
Mord, Selbſtmord ꝛc., waͤre unterblieben, haͤtte der Thaͤter
durch ein gutes Mittageſſen ſeine Leidenſchaften gereinigt, pur-
girt, abgeleitet, abgefuͤhrt.

Der Menſch ſoll ſich nicht geniren zu eſſen. O Ihr Na-
tur- und Wirklichkeits-Scheuen Hyperidealen, Ihr zarten zim-
perlichen Naturen, gebt doch die duͤnne Luft Eurer Ueberſchweng-
lichkeit auf! Sie kommt weder Euch noch Andern zu gut. Ihr
ſelbſt verfallt uͤber kurz oder lang der Trommelſucht oder der
Auszehrung, und Andere haben den Jammer, es anſehen zu
muͤſſen. Beißt ungenirt ein, ſchuͤchterne Juͤnglinge, haltet das
Eſſen nicht fuͤr gemein; lernt’s lieber.

Der Menſch ſoll mit Heiterkeit und Luſt eſſen, um recht
zu eſſen. Aus dem ſchoͤnen Spruche Sirach’s: „Einem froͤh-
lichen Herzen ſchmeckt alles wohl, was er iſſet“ ergiebt ſich
leicht, warum Heiterkeit ſchon der in der erſten Vorleſung gege-
benen Definition des Eſſens einzuverleiben war. Ein gewiſſer
heiterer Ernſt wird den Eßkuͤnſtler, der mit Eifer ſich ſeinem
Berufe widmet, nie verlaſſen. Nur keine Sentimentalitaͤt uͤber
Tiſch! — Wenn Jean Paul klagend ausruft: „Himmel, aus
wie vielen Marterſtunden der Thiere gluͤhen und loͤthen die
Menſchen eine einzige Feſtminute der Zunge zuſammen!“ —
ſo iſt dieß eben ein Geſichtspunkt, aus welchem das Eſſen ge-
rade nicht angeſchaut, am allerwenigſten aber dargeſtellt werden

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[109/0123] den Zaͤhnen knirrſchte und in einen kalten Schweiß ausbrach. Es laͤßt ſich wohl annehmen, daß hier gewiſſe Reminiscenzen im Spiele waren. So bekam der Theologe Pechmann, in Folge paͤdagogiſcher Erinnerungen, von Jugend auf vor Beſen, ja vor dem leiſeſten Streichen eines Beſen oder einer Ruthe die beklemmendſten Schauder und Kraͤmpfe. Doch genug davon. Ariſtoteles verlangt von der Tra- goͤdie eine Reinigung, Beruhigung der Leidenſchaften (καϑαρσις των παϑηματων). Eine gute Mahlzeit entſpricht oft dieſem Zwecke viel durchgreifender. Gewiß manche furchtbare That, Mord, Selbſtmord ꝛc., waͤre unterblieben, haͤtte der Thaͤter durch ein gutes Mittageſſen ſeine Leidenſchaften gereinigt, pur- girt, abgeleitet, abgefuͤhrt. Der Menſch ſoll ſich nicht geniren zu eſſen. O Ihr Na- tur- und Wirklichkeits-Scheuen Hyperidealen, Ihr zarten zim- perlichen Naturen, gebt doch die duͤnne Luft Eurer Ueberſchweng- lichkeit auf! Sie kommt weder Euch noch Andern zu gut. Ihr ſelbſt verfallt uͤber kurz oder lang der Trommelſucht oder der Auszehrung, und Andere haben den Jammer, es anſehen zu muͤſſen. Beißt ungenirt ein, ſchuͤchterne Juͤnglinge, haltet das Eſſen nicht fuͤr gemein; lernt’s lieber. Der Menſch ſoll mit Heiterkeit und Luſt eſſen, um recht zu eſſen. Aus dem ſchoͤnen Spruche Sirach’s: „Einem froͤh- lichen Herzen ſchmeckt alles wohl, was er iſſet“ ergiebt ſich leicht, warum Heiterkeit ſchon der in der erſten Vorleſung gege- benen Definition des Eſſens einzuverleiben war. Ein gewiſſer heiterer Ernſt wird den Eßkuͤnſtler, der mit Eifer ſich ſeinem Berufe widmet, nie verlaſſen. Nur keine Sentimentalitaͤt uͤber Tiſch! — Wenn Jean Paul klagend ausruft: „Himmel, aus wie vielen Marterſtunden der Thiere gluͤhen und loͤthen die Menſchen eine einzige Feſtminute der Zunge zuſammen!“ — ſo iſt dieß eben ein Geſichtspunkt, aus welchem das Eſſen ge- rade nicht angeſchaut, am allerwenigſten aber dargeſtellt werden

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Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/123>, abgerufen am 22.11.2024.