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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.

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Denn auch in meinem Beruf wäre der Tüchtigste, wer
zugleich Welt und Leben mit umfassen könnte."

Ich legte das Buch aus der Hand, besorgte den
Thee und entgegnete zögernd:

"Früher dachtest du doch ganz anders darüber,
Benno. Du urteiltest über alles als Mediziner ab und
ließest keinen Einwand gelten. Wodurch ist denn das
nur so gekommen?"

Er war an das Fenster getreten und blickte auf die
verschneite Straße hinaus, die von den gegenüberliegen¬
den Gefängnissen verdunkelt wurde.

"Dadurch, daß ich dich verlor!" sagte er halblaut.

Ich wagte nichts zu erwidern. Ich verharrte
regungslos. Aber ich dachte bei mir: "Das war ja durch¬
aus dein eigner Wille, dieser Verlust."

Ohne sich vom Fenster abzuwenden und ohne nach
mir hinzusehen, fuhr er mit halber Stimme fort:

"Ja, dadurch allein. Sonst wär ich wohl lebens¬
lang so geblieben wie damals: für meine eigne Person ge¬
wiß nicht anmaßend, sondern voll Bescheidenheit, aber
voll Ueberschätzung und Dünkel hinsichtlich meiner un¬
fehlbaren Weisheit, als Fachmensch. Aber da erkannte
ich allmählich, wodurch ich dich verloren hatte: durch den
Mangel an Einsicht in das, was dir not that, durch
Mißverstehen alles dessen, was kraftvoll und gesund in
dir war, und nur deshalb krankhaft erschien, weil man
deine Entwickelung unterband, weil man dich nicht in den
Stand setzte, es künstlerisch aus dir herauszugeben --"

"-- Das war gut so," unterbrach ich ihn mit An¬
strengung, "-- die Zukunft hat es bewiesen. Sie hat

Denn auch in meinem Beruf wäre der Tüchtigſte, wer
zugleich Welt und Leben mit umfaſſen könnte.“

Ich legte das Buch aus der Hand, beſorgte den
Thee und entgegnete zögernd:

„Früher dachteſt du doch ganz anders darüber,
Benno. Du urteilteſt über alles als Mediziner ab und
ließeſt keinen Einwand gelten. Wodurch iſt denn das
nur ſo gekommen?“

Er war an das Fenſter getreten und blickte auf die
verſchneite Straße hinaus, die von den gegenüberliegen¬
den Gefängniſſen verdunkelt wurde.

„Dadurch, daß ich dich verlor!“ ſagte er halblaut.

Ich wagte nichts zu erwidern. Ich verharrte
regungslos. Aber ich dachte bei mir: „Das war ja durch¬
aus dein eigner Wille, dieſer Verluſt.“

Ohne ſich vom Fenſter abzuwenden und ohne nach
mir hinzuſehen, fuhr er mit halber Stimme fort:

„Ja, dadurch allein. Sonſt wär ich wohl lebens¬
lang ſo geblieben wie damals: für meine eigne Perſon ge¬
wiß nicht anmaßend, ſondern voll Beſcheidenheit, aber
voll Ueberſchätzung und Dünkel hinſichtlich meiner un¬
fehlbaren Weisheit, als Fachmenſch. Aber da erkannte
ich allmählich, wodurch ich dich verloren hatte: durch den
Mangel an Einſicht in das, was dir not that, durch
Mißverſtehen alles deſſen, was kraftvoll und geſund in
dir war, und nur deshalb krankhaft erſchien, weil man
deine Entwickelung unterband, weil man dich nicht in den
Stand ſetzte, es künſtleriſch aus dir herauszugeben —“

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[150/0154] — 150 — Denn auch in meinem Beruf wäre der Tüchtigſte, wer zugleich Welt und Leben mit umfaſſen könnte.“ Ich legte das Buch aus der Hand, beſorgte den Thee und entgegnete zögernd: „Früher dachteſt du doch ganz anders darüber, Benno. Du urteilteſt über alles als Mediziner ab und ließeſt keinen Einwand gelten. Wodurch iſt denn das nur ſo gekommen?“ Er war an das Fenſter getreten und blickte auf die verſchneite Straße hinaus, die von den gegenüberliegen¬ den Gefängniſſen verdunkelt wurde. „Dadurch, daß ich dich verlor!“ ſagte er halblaut. Ich wagte nichts zu erwidern. Ich verharrte regungslos. Aber ich dachte bei mir: „Das war ja durch¬ aus dein eigner Wille, dieſer Verluſt.“ Ohne ſich vom Fenſter abzuwenden und ohne nach mir hinzuſehen, fuhr er mit halber Stimme fort: „Ja, dadurch allein. Sonſt wär ich wohl lebens¬ lang ſo geblieben wie damals: für meine eigne Perſon ge¬ wiß nicht anmaßend, ſondern voll Beſcheidenheit, aber voll Ueberſchätzung und Dünkel hinſichtlich meiner un¬ fehlbaren Weisheit, als Fachmenſch. Aber da erkannte ich allmählich, wodurch ich dich verloren hatte: durch den Mangel an Einſicht in das, was dir not that, durch Mißverſtehen alles deſſen, was kraftvoll und geſund in dir war, und nur deshalb krankhaft erſchien, weil man deine Entwickelung unterband, weil man dich nicht in den Stand ſetzte, es künſtleriſch aus dir herauszugeben —“ „— Das war gut ſo,“ unterbrach ich ihn mit An¬ ſtrengung, „— die Zukunft hat es bewieſen. Sie hat

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Zitationshilfe: Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/154>, abgerufen am 23.11.2024.