Einige Tage später befand ich mich auf der Reise nach Brieg. Während der langen Eisenbahnfahrt er¬ zählte ich es mir selber wohl hundertmal, wie wunder¬ lich eng und klein mir alles in der Heimat vorkommen werde, aber zugleich freute ich mich all dieses Engen und Kleinen, als des heimatlich Vertrauten, was ich nun wiedersehen sollte; es durfte sich nicht weiterentwickelt haben, sondern mußte, um zu wirken, genau so geblieben sein, wie es war, grade wie eine alte Kinderfibel, die ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr ein Erinnerungsbuch wäre.
Es reute mich nicht mehr, Paris verlassen zu haben, trotzdem ich grade jetzt dort den Winter hatte genießen wollen, -- und doch lag in der Stimmung, worin ich diese Reise unternahm, mir unbewußt, ein tieferer Leicht¬ sinn, der von dunkeln Sensationen träumte, als in allen Genüssen, zu denen ich mich dort hätte verleiten lassen können.
In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an. Den Tag meines Eintreffens hatte ich absichtlich nicht gemeldet, ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging langsam über den Wallgraben unsrer Steinstraße zu.
Es schneite. Ein mächtiger Wind, von Norden
Einige Tage ſpäter befand ich mich auf der Reiſe nach Brieg. Während der langen Eiſenbahnfahrt er¬ zählte ich es mir ſelber wohl hundertmal, wie wunder¬ lich eng und klein mir alles in der Heimat vorkommen werde, aber zugleich freute ich mich all dieſes Engen und Kleinen, als des heimatlich Vertrauten, was ich nun wiederſehen ſollte; es durfte ſich nicht weiterentwickelt haben, ſondern mußte, um zu wirken, genau ſo geblieben ſein, wie es war, grade wie eine alte Kinderfibel, die ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr ein Erinnerungsbuch wäre.
Es reute mich nicht mehr, Paris verlaſſen zu haben, trotzdem ich grade jetzt dort den Winter hatte genießen wollen, — und doch lag in der Stimmung, worin ich dieſe Reiſe unternahm, mir unbewußt, ein tieferer Leicht¬ ſinn, der von dunkeln Senſationen träumte, als in allen Genüſſen, zu denen ich mich dort hätte verleiten laſſen können.
In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an. Den Tag meines Eintreffens hatte ich abſichtlich nicht gemeldet, ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging langſam über den Wallgraben unſrer Steinſtraße zu.
Es ſchneite. Ein mächtiger Wind, von Norden
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[0123]
Einige Tage ſpäter befand ich mich auf der Reiſe
nach Brieg. Während der langen Eiſenbahnfahrt er¬
zählte ich es mir ſelber wohl hundertmal, wie wunder¬
lich eng und klein mir alles in der Heimat vorkommen
werde, aber zugleich freute ich mich all dieſes Engen und
Kleinen, als des heimatlich Vertrauten, was ich nun
wiederſehen ſollte; es durfte ſich nicht weiterentwickelt
haben, ſondern mußte, um zu wirken, genau ſo geblieben
ſein, wie es war, grade wie eine alte Kinderfibel, die
ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr
ein Erinnerungsbuch wäre.
Es reute mich nicht mehr, Paris verlaſſen zu haben,
trotzdem ich grade jetzt dort den Winter hatte genießen
wollen, — und doch lag in der Stimmung, worin ich
dieſe Reiſe unternahm, mir unbewußt, ein tieferer Leicht¬
ſinn, der von dunkeln Senſationen träumte, als in allen
Genüſſen, zu denen ich mich dort hätte verleiten laſſen
können.
In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an.
Den Tag meines Eintreffens hatte ich abſichtlich nicht
gemeldet, ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging
langſam über den Wallgraben unſrer Steinſtraße zu.
Es ſchneite. Ein mächtiger Wind, von Norden
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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/123>, abgerufen am 16.07.2024.
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