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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.

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Meine Mutter trat herein, und als sie uns so zu¬
sammenstehen sah, seufzte sie erleichtert auf.

"Nun ist wohl alles wieder gut?" bemerkte sie fra¬
gend, und sah Benno an wie einen, der für alles Rat weiß.

Benno ließ mich los und antwortete voll Heiterkeit:

"Von Rechts wegen und meinen Wünschen nach
müßte Adine in goldenem Königspalast wohnen. Aber
sie hätte mich ja nicht lieb, bliebe sie nicht hier."

Die nächsten Tage ging ich umher und beobachtete
unausgesetzt ein jedes Ding in meiner neuen Umgebung.
Meine tiefste Aufmerksamkeit erregte das Zuchthaus uns
gegenüber. Bisweilen konnte man zu einer bestimmten
Morgenzeit einige Zuchthäusler sehen, die gefesselt schräg
über unsere Straße zu irgend welcher Arbeit in einen
der Gefängnishöfe hinübergeführt wurden. Seitdem ich
das bemerkt hatte, stand ich stundenlang mit müßig nie¬
derhängenden Armen am Fenster und wartete auf diesen
Anblick.

Benno traf mich dabei an und schüttelte unzufrieden
den Kopf.

"Du bist ein kleiner Faulpelz geworden, Adine,"
sagte er, "ich kann nicht begreifen, was dir dran liegt,
die Burschen anzusehen."

"Ach, sieh nur hin," versetzte ich gequält, "sieh nur,
wie sie vorübergehn, ohne jemals den Blick zu heben.
Ich habe versucht, sie zu grüßen. Wir würden sie doch
so herzlich gern grüßen, nicht wahr? Aber sie sehen es
gar nicht, sie wollen es vielleicht gar nicht sehen, -- --
vielleicht hassen sie uns im stillen? -- -- und leben doch
so dicht bei uns, -- so dicht, -- bis sie sterben."

Meine Mutter trat herein, und als ſie uns ſo zu¬
ſammenſtehen ſah, ſeufzte ſie erleichtert auf.

„Nun iſt wohl alles wieder gut?“ bemerkte ſie fra¬
gend, und ſah Benno an wie einen, der für alles Rat weiß.

Benno ließ mich los und antwortete voll Heiterkeit:

„Von Rechts wegen und meinen Wünſchen nach
müßte Adine in goldenem Königspalaſt wohnen. Aber
ſie hätte mich ja nicht lieb, bliebe ſie nicht hier.“

Die nächſten Tage ging ich umher und beobachtete
unausgeſetzt ein jedes Ding in meiner neuen Umgebung.
Meine tiefſte Aufmerkſamkeit erregte das Zuchthaus uns
gegenüber. Bisweilen konnte man zu einer beſtimmten
Morgenzeit einige Zuchthäusler ſehen, die gefeſſelt ſchräg
über unſere Straße zu irgend welcher Arbeit in einen
der Gefängnishöfe hinübergeführt wurden. Seitdem ich
das bemerkt hatte, ſtand ich ſtundenlang mit müßig nie¬
derhängenden Armen am Fenſter und wartete auf dieſen
Anblick.

Benno traf mich dabei an und ſchüttelte unzufrieden
den Kopf.

„Du biſt ein kleiner Faulpelz geworden, Adine,“
ſagte er, „ich kann nicht begreifen, was dir dran liegt,
die Burſchen anzuſehen.“

„Ach, ſieh nur hin,“ verſetzte ich gequält, „ſieh nur,
wie ſie vorübergehn, ohne jemals den Blick zu heben.
Ich habe verſucht, ſie zu grüßen. Wir würden ſie doch
ſo herzlich gern grüßen, nicht wahr? Aber ſie ſehen es
gar nicht, ſie wollen es vielleicht gar nicht ſehen, — —
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ſo dicht bei uns, — ſo dicht, — bis ſie ſterben.“

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[110/0114] — 110 — Meine Mutter trat herein, und als ſie uns ſo zu¬ ſammenſtehen ſah, ſeufzte ſie erleichtert auf. „Nun iſt wohl alles wieder gut?“ bemerkte ſie fra¬ gend, und ſah Benno an wie einen, der für alles Rat weiß. Benno ließ mich los und antwortete voll Heiterkeit: „Von Rechts wegen und meinen Wünſchen nach müßte Adine in goldenem Königspalaſt wohnen. Aber ſie hätte mich ja nicht lieb, bliebe ſie nicht hier.“ Die nächſten Tage ging ich umher und beobachtete unausgeſetzt ein jedes Ding in meiner neuen Umgebung. Meine tiefſte Aufmerkſamkeit erregte das Zuchthaus uns gegenüber. Bisweilen konnte man zu einer beſtimmten Morgenzeit einige Zuchthäusler ſehen, die gefeſſelt ſchräg über unſere Straße zu irgend welcher Arbeit in einen der Gefängnishöfe hinübergeführt wurden. Seitdem ich das bemerkt hatte, ſtand ich ſtundenlang mit müßig nie¬ derhängenden Armen am Fenſter und wartete auf dieſen Anblick. Benno traf mich dabei an und ſchüttelte unzufrieden den Kopf. „Du biſt ein kleiner Faulpelz geworden, Adine,“ ſagte er, „ich kann nicht begreifen, was dir dran liegt, die Burſchen anzuſehen.“ „Ach, ſieh nur hin,“ verſetzte ich gequält, „ſieh nur, wie ſie vorübergehn, ohne jemals den Blick zu heben. Ich habe verſucht, ſie zu grüßen. Wir würden ſie doch ſo herzlich gern grüßen, nicht wahr? Aber ſie ſehen es gar nicht, ſie wollen es vielleicht gar nicht ſehen, — — vielleicht haſſen ſie uns im ſtillen? — — und leben doch ſo dicht bei uns, — ſo dicht, — bis ſie ſterben.“

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Zitationshilfe: Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/114>, abgerufen am 22.11.2024.