kaum existiert, und was mir selbst immer schattenhaft undeutlich geblieben ist.
An einem heißen Sommertag, weit hinten an der deutsch-galizischen Grenze, wo mein Vater damals in Gar¬ nison stand, saß ich einst als ganz kleines Mädchen auf dem Arm meiner frühern Amme und sah zu, wie sie von ihrem Mann über den Nacken geschlagen wurde, während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen. Der kraftvolle gebräunte Nacken, den sie der Hitze wegen offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte meine galizische Amme mir so glückselig ins Gesicht, daß mein Kinderherz meinen mußte, dieser brutale Schlag gehöre zweifellos zu den besondern Annehmlichkeiten ihres Lebens. Und vielleicht war es in der That ein wenig der Fall, denn weil sie sich, mit der fast hündischen Anhäng¬ lichkeit mancher slavischen Weiber, geweigert hatte, unser Haus zu verlassen, nachdem sie mich neun Monate lang mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete sie nun immer, ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen und weder Liebe noch Zorn für sie übrig behalten. Jeden¬ falls prügelte er sie oft, wenn er kam, und niemals tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen, als nach solch einem festlichen Wiedersehen.
Viele früheste Kindheitserinnerungen vorher und nach¬ her, -- ja selbst noch jahrelang nachher, -- sind mir spur¬ los verblichen. Aber etwas von der fast wollustweichen Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner Amme in jenem Augenblick ist mir später oft noch im Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem
kaum exiſtiert, und was mir ſelbſt immer ſchattenhaft undeutlich geblieben iſt.
An einem heißen Sommertag, weit hinten an der deutſch-galiziſchen Grenze, wo mein Vater damals in Gar¬ niſon ſtand, ſaß ich einſt als ganz kleines Mädchen auf dem Arm meiner frühern Amme und ſah zu, wie ſie von ihrem Mann über den Nacken geſchlagen wurde, während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen. Der kraftvolle gebräunte Nacken, den ſie der Hitze wegen offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte meine galiziſche Amme mir ſo glückſelig ins Geſicht, daß mein Kinderherz meinen mußte, dieſer brutale Schlag gehöre zweifellos zu den beſondern Annehmlichkeiten ihres Lebens. Und vielleicht war es in der That ein wenig der Fall, denn weil ſie ſich, mit der faſt hündiſchen Anhäng¬ lichkeit mancher ſlaviſchen Weiber, geweigert hatte, unſer Haus zu verlaſſen, nachdem ſie mich neun Monate lang mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete ſie nun immer, ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen und weder Liebe noch Zorn für ſie übrig behalten. Jeden¬ falls prügelte er ſie oft, wenn er kam, und niemals tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen, als nach ſolch einem feſtlichen Wiederſehen.
Viele früheſte Kindheitserinnerungen vorher und nach¬ her, — ja ſelbſt noch jahrelang nachher, — ſind mir ſpur¬ los verblichen. Aber etwas von der faſt wolluſtweichen Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner Amme in jenem Augenblick iſt mir ſpäter oft noch im Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem
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kaum exiſtiert, und was mir ſelbſt immer ſchattenhaft
undeutlich geblieben iſt.
An einem heißen Sommertag, weit hinten an der
deutſch-galiziſchen Grenze, wo mein Vater damals in Gar¬
niſon ſtand, ſaß ich einſt als ganz kleines Mädchen auf
dem Arm meiner frühern Amme und ſah zu, wie ſie
von ihrem Mann über den Nacken geſchlagen wurde,
während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen.
Der kraftvolle gebräunte Nacken, den ſie der Hitze wegen
offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als
ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte
meine galiziſche Amme mir ſo glückſelig ins Geſicht, daß
mein Kinderherz meinen mußte, dieſer brutale Schlag
gehöre zweifellos zu den beſondern Annehmlichkeiten ihres
Lebens. Und vielleicht war es in der That ein wenig der
Fall, denn weil ſie ſich, mit der faſt hündiſchen Anhäng¬
lichkeit mancher ſlaviſchen Weiber, geweigert hatte, unſer
Haus zu verlaſſen, nachdem ſie mich neun Monate lang
mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete ſie nun immer,
ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen
und weder Liebe noch Zorn für ſie übrig behalten. Jeden¬
falls prügelte er ſie oft, wenn er kam, und niemals
tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen, als
nach ſolch einem feſtlichen Wiederſehen.
Viele früheſte Kindheitserinnerungen vorher und nach¬
her, — ja ſelbſt noch jahrelang nachher, — ſind mir ſpur¬
los verblichen. Aber etwas von der faſt wolluſtweichen
Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner
Amme in jenem Augenblick iſt mir ſpäter oft noch im
Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem
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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/107>, abgerufen am 16.02.2025.
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