und schreibe, in allen Nerven gebannt vom Rückblick in meine Vergangenheit? Oder warum dann dein Argwohn, und mein Eingeständnis, daß ich nicht mehr kann, was ich so heiß möchte, -- nicht mehr mit voller Kraft und Hingebung lieben kann, grade als ob ich ein ausgegebener, erschöpfter Mensch wäre?
Handelte es sich um Ueberwindung von Vorurteilen, um zu vergebenden Leichtsinn und Fehl im üblichen Sinn, -- o handelte es sich doch darum! Du, so ohne Be¬ denklichkeiten zweiten Ranges, du, der jegliches versteht und mitfühlt, würdest mir dadurch nicht verloren gehn. Aber das ist es nicht, und dennoch ist es so: mich hat eine lange Ausschweifung zu ernster und voller Liebe un¬ fähig gemacht.
Jetzt, wo ich mir das klar zu machen versuche, kommt der Gedanke voll Erstaunen über mich: wie viel weniger unser Leben von dem abhängt, was wir bewußt erfahren und treiben, als von heimlichen, unkontrollierbaren Ner¬ veneindrücken, die mit unsrer individuellen Entwickelung schlechterdings nichts zu schaffen haben. Seit ich über¬ haupt denken kann, seit ich von eignen Wünschen und Hoffnungen bewegt werde, bin ich der Kunst entgegen¬ gegangen, habe ich mich an ihr entzückt, oder um sie ge¬ litten, und lange noch ehe ich mich ihr wirklich wid¬ men durfte, in irgend einem Sinne schon im Umkreis der ihr verwandten Sensationen gelebt. Und trotzdem würde jetzt, wollte ich dir mein Leben erzählen, von der Kunst kaum die Rede sein, und kaum würde sie ärmlichsten Raum finden, riesengroß aber müßte in den Vordergrund treten, was doch in meinem individuellen Bewußtsein
und ſchreibe, in allen Nerven gebannt vom Rückblick in meine Vergangenheit? Oder warum dann dein Argwohn, und mein Eingeſtändnis, daß ich nicht mehr kann, was ich ſo heiß möchte, — nicht mehr mit voller Kraft und Hingebung lieben kann, grade als ob ich ein ausgegebener, erſchöpfter Menſch wäre?
Handelte es ſich um Ueberwindung von Vorurteilen, um zu vergebenden Leichtſinn und Fehl im üblichen Sinn, — o handelte es ſich doch darum! Du, ſo ohne Be¬ denklichkeiten zweiten Ranges, du, der jegliches verſteht und mitfühlt, würdeſt mir dadurch nicht verloren gehn. Aber das iſt es nicht, und dennoch iſt es ſo: mich hat eine lange Ausſchweifung zu ernſter und voller Liebe un¬ fähig gemacht.
Jetzt, wo ich mir das klar zu machen verſuche, kommt der Gedanke voll Erſtaunen über mich: wie viel weniger unſer Leben von dem abhängt, was wir bewußt erfahren und treiben, als von heimlichen, unkontrollierbaren Ner¬ veneindrücken, die mit unſrer individuellen Entwickelung ſchlechterdings nichts zu ſchaffen haben. Seit ich über¬ haupt denken kann, ſeit ich von eignen Wünſchen und Hoffnungen bewegt werde, bin ich der Kunſt entgegen¬ gegangen, habe ich mich an ihr entzückt, oder um ſie ge¬ litten, und lange noch ehe ich mich ihr wirklich wid¬ men durfte, in irgend einem Sinne ſchon im Umkreis der ihr verwandten Senſationen gelebt. Und trotzdem würde jetzt, wollte ich dir mein Leben erzählen, von der Kunſt kaum die Rede ſein, und kaum würde ſie ärmlichſten Raum finden, rieſengroß aber müßte in den Vordergrund treten, was doch in meinem individuellen Bewußtſein
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und ſchreibe, in allen Nerven gebannt vom Rückblick in
meine Vergangenheit? Oder warum dann dein Argwohn,
und mein Eingeſtändnis, daß ich nicht mehr kann, was
ich ſo heiß möchte, — nicht mehr mit voller Kraft und
Hingebung lieben kann, grade als ob ich ein ausgegebener,
erſchöpfter Menſch wäre?
Handelte es ſich um Ueberwindung von Vorurteilen,
um zu vergebenden Leichtſinn und Fehl im üblichen Sinn,
— o handelte es ſich doch darum! Du, ſo ohne Be¬
denklichkeiten zweiten Ranges, du, der jegliches verſteht
und mitfühlt, würdeſt mir dadurch nicht verloren gehn.
Aber das iſt es nicht, und dennoch iſt es ſo: mich hat
eine lange Ausſchweifung zu ernſter und voller Liebe un¬
fähig gemacht.
Jetzt, wo ich mir das klar zu machen verſuche, kommt
der Gedanke voll Erſtaunen über mich: wie viel weniger
unſer Leben von dem abhängt, was wir bewußt erfahren
und treiben, als von heimlichen, unkontrollierbaren Ner¬
veneindrücken, die mit unſrer individuellen Entwickelung
ſchlechterdings nichts zu ſchaffen haben. Seit ich über¬
haupt denken kann, ſeit ich von eignen Wünſchen und
Hoffnungen bewegt werde, bin ich der Kunſt entgegen¬
gegangen, habe ich mich an ihr entzückt, oder um ſie ge¬
litten, und lange noch ehe ich mich ihr wirklich wid¬
men durfte, in irgend einem Sinne ſchon im Umkreis
der ihr verwandten Senſationen gelebt. Und trotzdem
würde jetzt, wollte ich dir mein Leben erzählen, von der
Kunſt kaum die Rede ſein, und kaum würde ſie ärmlichſten
Raum finden, rieſengroß aber müßte in den Vordergrund
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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/106>, abgerufen am 16.02.2025.
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