Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.beruhigend auf seine turnerischen Wallungen wirken: er blieb auf seinem Gipfel zwischen Koffern und Kasten sitzen und rief uns die beruhigende Nachricht herunter, daß weitere Maßregeln nicht nöthig seien, da die Pferde auf der Landstraße blieben und er schon von fern den Stationsort zu erblicken glaube. Trotz dieser Versicherung war ich nicht ruhig, sondern ergriff alle mir einfallenden Vorsichtsmaßregeln, um für den Umsturz des Wagens die schöne Gefangene desselben möglichst sicher zu stellen. Ich häufte ungeachtet ihrer heroischen Gegenvorstellungen alle im Wagen befindlichen Kissen gleichsam als ein weiches Gehäuse um und auf sie. Ich weiß nicht, was ich in meiner Herzensangst, die in der Sorge für das schwächere Geschlecht einen Beschönigungsgrund fand, Alles versucht und gethan habe. Das Ende war, daß wir glücklich das nächste Dorf erreichten, vor dessen Postgebäude die ermüdeten Pferde mechanisch Halt machten. Obgleich ich mit einem dankbaren Blick gen Himmel dem dunklen Gefängniß entstieg und mit unbeschreiblichen Gefühlen den kurzen elastischen Druck der beim Herabgleiten auf meinen Arm sich stützenden Schicksalsgefährtin empfand -- während der Turner mit einem gewaltigen Satze über uns weg dem aus dem Hause kommenden Postmeister in die Arme sprang -- so durchfuhr mich doch in demselben Augenblick der schmerzliche Gedanke, daß ein tyrannisches Geschick zwei vielleicht ganz für einander geschaffene Menschenseelen, welche es unter beängstigenden Umständen zusammengeführt hatte, schon jetzt durch seinen gebieterischen Spruch -- vielleicht auf ewig -- wieder trennen mußte. Ach! jeder verlassene Mensch, welcher vergebens nach einer ihm harmonischen, von der Natur gerade für ihn gestimmten und bestimmten Person seufzt, ist dieser wohl schon auf den flüchtigen Pfaden des Lebens begegnet, ohne sein Glück geahnt zu haben, oder doch wieder an den beruhigend auf seine turnerischen Wallungen wirken: er blieb auf seinem Gipfel zwischen Koffern und Kasten sitzen und rief uns die beruhigende Nachricht herunter, daß weitere Maßregeln nicht nöthig seien, da die Pferde auf der Landstraße blieben und er schon von fern den Stationsort zu erblicken glaube. Trotz dieser Versicherung war ich nicht ruhig, sondern ergriff alle mir einfallenden Vorsichtsmaßregeln, um für den Umsturz des Wagens die schöne Gefangene desselben möglichst sicher zu stellen. Ich häufte ungeachtet ihrer heroischen Gegenvorstellungen alle im Wagen befindlichen Kissen gleichsam als ein weiches Gehäuse um und auf sie. Ich weiß nicht, was ich in meiner Herzensangst, die in der Sorge für das schwächere Geschlecht einen Beschönigungsgrund fand, Alles versucht und gethan habe. Das Ende war, daß wir glücklich das nächste Dorf erreichten, vor dessen Postgebäude die ermüdeten Pferde mechanisch Halt machten. Obgleich ich mit einem dankbaren Blick gen Himmel dem dunklen Gefängniß entstieg und mit unbeschreiblichen Gefühlen den kurzen elastischen Druck der beim Herabgleiten auf meinen Arm sich stützenden Schicksalsgefährtin empfand — während der Turner mit einem gewaltigen Satze über uns weg dem aus dem Hause kommenden Postmeister in die Arme sprang — so durchfuhr mich doch in demselben Augenblick der schmerzliche Gedanke, daß ein tyrannisches Geschick zwei vielleicht ganz für einander geschaffene Menschenseelen, welche es unter beängstigenden Umständen zusammengeführt hatte, schon jetzt durch seinen gebieterischen Spruch — vielleicht auf ewig — wieder trennen mußte. Ach! jeder verlassene Mensch, welcher vergebens nach einer ihm harmonischen, von der Natur gerade für ihn gestimmten und bestimmten Person seufzt, ist dieser wohl schon auf den flüchtigen Pfaden des Lebens begegnet, ohne sein Glück geahnt zu haben, oder doch wieder an den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0019"/> beruhigend auf seine turnerischen Wallungen wirken: er blieb auf seinem Gipfel zwischen Koffern und Kasten sitzen und rief uns die beruhigende Nachricht herunter, daß weitere Maßregeln nicht nöthig seien, da die Pferde auf der Landstraße blieben und er schon von fern den Stationsort zu erblicken glaube.</p><lb/> <p>Trotz dieser Versicherung war ich nicht ruhig, sondern ergriff alle mir einfallenden Vorsichtsmaßregeln, um für den Umsturz des Wagens die schöne Gefangene desselben möglichst sicher zu stellen. Ich häufte ungeachtet ihrer heroischen Gegenvorstellungen alle im Wagen befindlichen Kissen gleichsam als ein weiches Gehäuse um und auf sie. Ich weiß nicht, was ich in meiner Herzensangst, die in der Sorge für das schwächere Geschlecht einen Beschönigungsgrund fand, Alles versucht und gethan habe. Das Ende war, daß wir glücklich das nächste Dorf erreichten, vor dessen Postgebäude die ermüdeten Pferde mechanisch Halt machten.</p><lb/> <p>Obgleich ich mit einem dankbaren Blick gen Himmel dem dunklen Gefängniß entstieg und mit unbeschreiblichen Gefühlen den kurzen elastischen Druck der beim Herabgleiten auf meinen Arm sich stützenden Schicksalsgefährtin empfand — während der Turner mit einem gewaltigen Satze über uns weg dem aus dem Hause kommenden Postmeister in die Arme sprang — so durchfuhr mich doch in demselben Augenblick der schmerzliche Gedanke, daß ein tyrannisches Geschick zwei vielleicht ganz für einander geschaffene Menschenseelen, welche es unter beängstigenden Umständen zusammengeführt hatte, schon jetzt durch seinen gebieterischen Spruch — vielleicht auf ewig — wieder trennen mußte. Ach! jeder verlassene Mensch, welcher vergebens nach einer ihm harmonischen, von der Natur gerade für ihn gestimmten und bestimmten Person seufzt, ist dieser wohl schon auf den flüchtigen Pfaden des Lebens begegnet, ohne sein Glück geahnt zu haben, oder doch wieder an den<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
beruhigend auf seine turnerischen Wallungen wirken: er blieb auf seinem Gipfel zwischen Koffern und Kasten sitzen und rief uns die beruhigende Nachricht herunter, daß weitere Maßregeln nicht nöthig seien, da die Pferde auf der Landstraße blieben und er schon von fern den Stationsort zu erblicken glaube.
Trotz dieser Versicherung war ich nicht ruhig, sondern ergriff alle mir einfallenden Vorsichtsmaßregeln, um für den Umsturz des Wagens die schöne Gefangene desselben möglichst sicher zu stellen. Ich häufte ungeachtet ihrer heroischen Gegenvorstellungen alle im Wagen befindlichen Kissen gleichsam als ein weiches Gehäuse um und auf sie. Ich weiß nicht, was ich in meiner Herzensangst, die in der Sorge für das schwächere Geschlecht einen Beschönigungsgrund fand, Alles versucht und gethan habe. Das Ende war, daß wir glücklich das nächste Dorf erreichten, vor dessen Postgebäude die ermüdeten Pferde mechanisch Halt machten.
Obgleich ich mit einem dankbaren Blick gen Himmel dem dunklen Gefängniß entstieg und mit unbeschreiblichen Gefühlen den kurzen elastischen Druck der beim Herabgleiten auf meinen Arm sich stützenden Schicksalsgefährtin empfand — während der Turner mit einem gewaltigen Satze über uns weg dem aus dem Hause kommenden Postmeister in die Arme sprang — so durchfuhr mich doch in demselben Augenblick der schmerzliche Gedanke, daß ein tyrannisches Geschick zwei vielleicht ganz für einander geschaffene Menschenseelen, welche es unter beängstigenden Umständen zusammengeführt hatte, schon jetzt durch seinen gebieterischen Spruch — vielleicht auf ewig — wieder trennen mußte. Ach! jeder verlassene Mensch, welcher vergebens nach einer ihm harmonischen, von der Natur gerade für ihn gestimmten und bestimmten Person seufzt, ist dieser wohl schon auf den flüchtigen Pfaden des Lebens begegnet, ohne sein Glück geahnt zu haben, oder doch wieder an den
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/andolt_nacht_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/andolt_nacht_1910/19 |
Zitationshilfe: | Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andolt_nacht_1910/19>, abgerufen am 16.07.2024. |