Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.von der Musenstadt scheidet, in bereit Mauern er die freiesten und stolzesten, wenn nicht die schönsten drei, vier Jahre seines Lebens genossen hat. In solchen Augenblicken däucht uns nur die Vergangenheit werth und golden; die Zukunft mit ihren kleinen, bürgerlichen Verhältnissen erscheint uns schal und armselig und drückt bleiern auf die Schwungfedern unsrer Phantasie. Neben mir in dem Postwagen saß ein Herr mit einem blassen Gesichte, welches einen stolzen, abgeschlossenen Ausdruck hatte, schwärzlichem Haar und Schnurrbart, in einem grauen, bis an den Hals zugeknöpften Rock. Ihm gegenüber saß ein junges Mädchen, deren Gesicht ein liebliches Gemisch von Seelenreinheit, Bescheidenheit und Verstand ausdrückte. Sie trug einen Hut von schwarzer Seide und war in einen einfachen braunen Mantel gehüllt. Ein viertes Individuum gab mir seine Anwesenheit in dem Wagen zu erkennen, indem es mich auf die Füße trat, ohne um Entschuldigung zu bitten: dieses unangenehme Vis-a-vis bestand in einem jungen, derbknochigen Gesellen, dessen von langem, schlecht gekämmtem blondem Haar eingeschlossenes Gesicht von Gesundheit strotzte; seine Unterkleider bestanden trotz des kalten Schneewetters aus grauer Leinwand, und er schien so wenig von dem Einfluß der Witterung zu leiden, daß er eine Art Flausrock, welchen er darüber trug, nicht einmal zuzuknöpfen würdigte. Seine Hände waren groß und mäßig rein. Das war meine Reisegesellschaft. Es war vier Uhr, als wir aus dem Thore der Stadt fuhren. Es war das letzte Mal, daß ich die Glocken der Musenstadt hörte. Ich wollte Reflexionen über meine Wagengenossen anstellen und die Frage stillschweigend erwägen, ob überhaupt und worüber etwa eine Unterhaltung ohne Gefährde zu eröffnen sei. -- O, Sie waren doch immer Derselbe, unterbrach hier lächelnd, eine ältere Dame den Erzähler; Sie haben von der Musenstadt scheidet, in bereit Mauern er die freiesten und stolzesten, wenn nicht die schönsten drei, vier Jahre seines Lebens genossen hat. In solchen Augenblicken däucht uns nur die Vergangenheit werth und golden; die Zukunft mit ihren kleinen, bürgerlichen Verhältnissen erscheint uns schal und armselig und drückt bleiern auf die Schwungfedern unsrer Phantasie. Neben mir in dem Postwagen saß ein Herr mit einem blassen Gesichte, welches einen stolzen, abgeschlossenen Ausdruck hatte, schwärzlichem Haar und Schnurrbart, in einem grauen, bis an den Hals zugeknöpften Rock. Ihm gegenüber saß ein junges Mädchen, deren Gesicht ein liebliches Gemisch von Seelenreinheit, Bescheidenheit und Verstand ausdrückte. Sie trug einen Hut von schwarzer Seide und war in einen einfachen braunen Mantel gehüllt. Ein viertes Individuum gab mir seine Anwesenheit in dem Wagen zu erkennen, indem es mich auf die Füße trat, ohne um Entschuldigung zu bitten: dieses unangenehme Vis-à-vis bestand in einem jungen, derbknochigen Gesellen, dessen von langem, schlecht gekämmtem blondem Haar eingeschlossenes Gesicht von Gesundheit strotzte; seine Unterkleider bestanden trotz des kalten Schneewetters aus grauer Leinwand, und er schien so wenig von dem Einfluß der Witterung zu leiden, daß er eine Art Flausrock, welchen er darüber trug, nicht einmal zuzuknöpfen würdigte. Seine Hände waren groß und mäßig rein. Das war meine Reisegesellschaft. Es war vier Uhr, als wir aus dem Thore der Stadt fuhren. Es war das letzte Mal, daß ich die Glocken der Musenstadt hörte. Ich wollte Reflexionen über meine Wagengenossen anstellen und die Frage stillschweigend erwägen, ob überhaupt und worüber etwa eine Unterhaltung ohne Gefährde zu eröffnen sei. — O, Sie waren doch immer Derselbe, unterbrach hier lächelnd, eine ältere Dame den Erzähler; Sie haben <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0010"/> von der Musenstadt scheidet, in bereit Mauern er die freiesten und stolzesten, wenn nicht die schönsten drei, vier Jahre seines Lebens genossen hat. In solchen Augenblicken däucht uns nur die Vergangenheit werth und golden; die Zukunft mit ihren kleinen, bürgerlichen Verhältnissen erscheint uns schal und armselig und drückt bleiern auf die Schwungfedern unsrer Phantasie.</p><lb/> <p>Neben mir in dem Postwagen saß ein Herr mit einem blassen Gesichte, welches einen stolzen, abgeschlossenen Ausdruck hatte, schwärzlichem Haar und Schnurrbart, in einem grauen, bis an den Hals zugeknöpften Rock. 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von der Musenstadt scheidet, in bereit Mauern er die freiesten und stolzesten, wenn nicht die schönsten drei, vier Jahre seines Lebens genossen hat. In solchen Augenblicken däucht uns nur die Vergangenheit werth und golden; die Zukunft mit ihren kleinen, bürgerlichen Verhältnissen erscheint uns schal und armselig und drückt bleiern auf die Schwungfedern unsrer Phantasie.
Neben mir in dem Postwagen saß ein Herr mit einem blassen Gesichte, welches einen stolzen, abgeschlossenen Ausdruck hatte, schwärzlichem Haar und Schnurrbart, in einem grauen, bis an den Hals zugeknöpften Rock. Ihm gegenüber saß ein junges Mädchen, deren Gesicht ein liebliches Gemisch von Seelenreinheit, Bescheidenheit und Verstand ausdrückte. Sie trug einen Hut von schwarzer Seide und war in einen einfachen braunen Mantel gehüllt. Ein viertes Individuum gab mir seine Anwesenheit in dem Wagen zu erkennen, indem es mich auf die Füße trat, ohne um Entschuldigung zu bitten: dieses unangenehme Vis-à-vis bestand in einem jungen, derbknochigen Gesellen, dessen von langem, schlecht gekämmtem blondem Haar eingeschlossenes Gesicht von Gesundheit strotzte; seine Unterkleider bestanden trotz des kalten Schneewetters aus grauer Leinwand, und er schien so wenig von dem Einfluß der Witterung zu leiden, daß er eine Art Flausrock, welchen er darüber trug, nicht einmal zuzuknöpfen würdigte. Seine Hände waren groß und mäßig rein. Das war meine Reisegesellschaft.
Es war vier Uhr, als wir aus dem Thore der Stadt fuhren. Es war das letzte Mal, daß ich die Glocken der Musenstadt hörte.
Ich wollte Reflexionen über meine Wagengenossen anstellen und die Frage stillschweigend erwägen, ob überhaupt und worüber etwa eine Unterhaltung ohne Gefährde zu eröffnen sei. —
O, Sie waren doch immer Derselbe, unterbrach hier lächelnd, eine ältere Dame den Erzähler; Sie haben
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Zitationshilfe: | Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andolt_nacht_1910/10>, abgerufen am 16.07.2024. |