Alexis, Willibald: Herr von Sacken. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–202. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.fuhr das erste Ungethüm über den Kutschendeckel, drüben im tiefen Schnee wieder untersinkend. Ein zweites krallte an das Leder. Jetzt versuchte es oben, jetzt unten Eingang. Er glaubte den warmen Hauch des Rachens durch die dicke Decke zu fühlen, indeß der gräßliche Schrei heißhungriger Wuth seine Nerven zerfleischte. Jetzt waren sie unter, über ihm, jetzt kratzten sie an dem Leder, jetzt nagten sie an den Brettern, rüttelten an der Deichsel. Er pries seine ersten Peiniger, die ihm einen so festen Käfich gebaut. Aber wie lange konnte das Menschenwerk, das doch auch durch die lange Reise gelitten, der wilden Naturkraft der hungrigen Bestien Widerstand leisten. Er war ohne Waffen; aber was hätten Waffen in der Hand des einzelnen geschwächten Mannes vermocht! Auf das Sterben war er vorbereitet; aber darum betete er, daß sein letzter Augenaufschlag noch einem menschlichen Wesen ins Gesicht blicke. Da ergriff er krampfhaft seine Brieftasche und kritzelte mit dem Stifte sein Testament auf die Tafel. Man mußte es ja lesen können, wenn gleich in tiefem Dunkel geschrieben, denn ein Lichtstrahl, der seine Seele durchzuckte, dictirte es ihm: Vergebung allen meinen Feinden. Vergebt auch mir, der ich euch ohne allen Grund quälte. Mein Neffe, sei glücklich an der Hand deiner Benigna, der ich alle meine Habe -- Der Griffel entfiel ihm. Denn von Neuem wüthete der Sturm. Der Orkan heulte um die Wette mit den Wölfen. Die Schneemassen wurden zu Bergen auf- fuhr das erste Ungethüm über den Kutschendeckel, drüben im tiefen Schnee wieder untersinkend. Ein zweites krallte an das Leder. Jetzt versuchte es oben, jetzt unten Eingang. Er glaubte den warmen Hauch des Rachens durch die dicke Decke zu fühlen, indeß der gräßliche Schrei heißhungriger Wuth seine Nerven zerfleischte. Jetzt waren sie unter, über ihm, jetzt kratzten sie an dem Leder, jetzt nagten sie an den Brettern, rüttelten an der Deichsel. Er pries seine ersten Peiniger, die ihm einen so festen Käfich gebaut. Aber wie lange konnte das Menschenwerk, das doch auch durch die lange Reise gelitten, der wilden Naturkraft der hungrigen Bestien Widerstand leisten. Er war ohne Waffen; aber was hätten Waffen in der Hand des einzelnen geschwächten Mannes vermocht! Auf das Sterben war er vorbereitet; aber darum betete er, daß sein letzter Augenaufschlag noch einem menschlichen Wesen ins Gesicht blicke. Da ergriff er krampfhaft seine Brieftasche und kritzelte mit dem Stifte sein Testament auf die Tafel. Man mußte es ja lesen können, wenn gleich in tiefem Dunkel geschrieben, denn ein Lichtstrahl, der seine Seele durchzuckte, dictirte es ihm: Vergebung allen meinen Feinden. Vergebt auch mir, der ich euch ohne allen Grund quälte. Mein Neffe, sei glücklich an der Hand deiner Benigna, der ich alle meine Habe — Der Griffel entfiel ihm. Denn von Neuem wüthete der Sturm. Der Orkan heulte um die Wette mit den Wölfen. Die Schneemassen wurden zu Bergen auf- <TEI> <text> <body> <div n="7"> <p><pb facs="#f0097"/> fuhr das erste Ungethüm über den Kutschendeckel, drüben im tiefen Schnee wieder untersinkend. Ein zweites krallte an das Leder. Jetzt versuchte es oben, jetzt unten Eingang. Er glaubte den warmen Hauch des Rachens durch die dicke Decke zu fühlen, indeß der gräßliche Schrei heißhungriger Wuth seine Nerven zerfleischte. Jetzt waren sie unter, über ihm, jetzt kratzten sie an dem Leder, jetzt nagten sie an den Brettern, rüttelten an der Deichsel. Er pries seine ersten Peiniger, die ihm einen so festen Käfich gebaut. Aber wie lange konnte das Menschenwerk, das doch auch durch die lange Reise gelitten, der wilden Naturkraft der hungrigen Bestien Widerstand leisten. Er war ohne Waffen; aber was hätten Waffen in der Hand des einzelnen geschwächten Mannes vermocht! Auf das Sterben war er vorbereitet; aber darum betete er, daß sein letzter Augenaufschlag noch einem menschlichen Wesen ins Gesicht blicke. Da ergriff er krampfhaft seine Brieftasche und kritzelte mit dem Stifte sein Testament auf die Tafel. Man mußte es ja lesen können, wenn gleich in tiefem Dunkel geschrieben, denn ein Lichtstrahl, der seine Seele durchzuckte, dictirte es ihm: Vergebung allen meinen Feinden. Vergebt auch mir, der ich euch ohne allen Grund quälte. Mein Neffe, sei glücklich an der Hand deiner Benigna, der ich alle meine Habe —</p><lb/> <p>Der Griffel entfiel ihm. Denn von Neuem wüthete der Sturm. Der Orkan heulte um die Wette mit den Wölfen. Die Schneemassen wurden zu Bergen auf-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0097]
fuhr das erste Ungethüm über den Kutschendeckel, drüben im tiefen Schnee wieder untersinkend. Ein zweites krallte an das Leder. Jetzt versuchte es oben, jetzt unten Eingang. Er glaubte den warmen Hauch des Rachens durch die dicke Decke zu fühlen, indeß der gräßliche Schrei heißhungriger Wuth seine Nerven zerfleischte. Jetzt waren sie unter, über ihm, jetzt kratzten sie an dem Leder, jetzt nagten sie an den Brettern, rüttelten an der Deichsel. Er pries seine ersten Peiniger, die ihm einen so festen Käfich gebaut. Aber wie lange konnte das Menschenwerk, das doch auch durch die lange Reise gelitten, der wilden Naturkraft der hungrigen Bestien Widerstand leisten. Er war ohne Waffen; aber was hätten Waffen in der Hand des einzelnen geschwächten Mannes vermocht! Auf das Sterben war er vorbereitet; aber darum betete er, daß sein letzter Augenaufschlag noch einem menschlichen Wesen ins Gesicht blicke. Da ergriff er krampfhaft seine Brieftasche und kritzelte mit dem Stifte sein Testament auf die Tafel. Man mußte es ja lesen können, wenn gleich in tiefem Dunkel geschrieben, denn ein Lichtstrahl, der seine Seele durchzuckte, dictirte es ihm: Vergebung allen meinen Feinden. Vergebt auch mir, der ich euch ohne allen Grund quälte. Mein Neffe, sei glücklich an der Hand deiner Benigna, der ich alle meine Habe —
Der Griffel entfiel ihm. Denn von Neuem wüthete der Sturm. Der Orkan heulte um die Wette mit den Wölfen. Die Schneemassen wurden zu Bergen auf-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-14T12:11:53Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-14T12:11:53Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |