Mitleids. Und sie hatte zum Vater, von dem alle gute Gaben kommen, gebetet, daß er Dohleneck vergebe.
Da war sie, fast erheitert, aufgestanden, sie hatte des Todten Hand gedrückt, auch er würde im Leben nichts dagegen einzuwenden gehabt haben, und in stiller Fassung saß sie im Lehnstuhl, die Augen schlie¬ ßend, als ein heftiger Schrei sie aufschreckte. Der Legationsrath, der, um Nachricht, ob Gefahr sei, ein¬ zuziehen, sie verlassen, war zurückgekehrt, er hatte sich über das Bett geworfen, der stöhnende convulsivische Schrei kam von ihm.
"Da ist ein edler Freund mir hingegangen. Er da oben nur weiß, was er mir war!" rief er, sich erhebend, die Hände über's Gesicht deckend. -- Nur auf kurze Secunden. Den nächsten Augenblick beugte er sich über die Wittwe, sie fühlte einen langen Kuß auf ihre Stirn gedrückt:
"Das ist der Bruderkuß, der Schwester gegeben. Die Sterne wollen es so. Edler Todter, deine Seele blickt auf uns, aber ich sehe dich ruhig lächeln, denn du weißt, daß ich deine heiligen Pflichten gegen dein Weib erfüllen werde. Durch diesen Kuß besiegle ich mein Gelöbniß."
Sie war vorhin überrascht worden, jetzt, als seine Lippen sich ihr näherten, stieß sie ihn zurück. Sie wollte sich auf die Leiche werfen, aber mit eben solcher Entschlossenheit riß er sie am Arme zurück:
"Unglückselige! Wissen Sie, was Sie thun? Er
Mitleids. Und ſie hatte zum Vater, von dem alle gute Gaben kommen, gebetet, daß er Dohleneck vergebe.
Da war ſie, faſt erheitert, aufgeſtanden, ſie hatte des Todten Hand gedrückt, auch er würde im Leben nichts dagegen einzuwenden gehabt haben, und in ſtiller Faſſung ſaß ſie im Lehnſtuhl, die Augen ſchlie¬ ßend, als ein heftiger Schrei ſie aufſchreckte. Der Legationsrath, der, um Nachricht, ob Gefahr ſei, ein¬ zuziehen, ſie verlaſſen, war zurückgekehrt, er hatte ſich über das Bett geworfen, der ſtöhnende convulſiviſche Schrei kam von ihm.
„Da iſt ein edler Freund mir hingegangen. Er da oben nur weiß, was er mir war!“ rief er, ſich erhebend, die Hände über's Geſicht deckend. — Nur auf kurze Secunden. Den nächſten Augenblick beugte er ſich über die Wittwe, ſie fühlte einen langen Kuß auf ihre Stirn gedrückt:
„Das iſt der Bruderkuß, der Schweſter gegeben. Die Sterne wollen es ſo. Edler Todter, deine Seele blickt auf uns, aber ich ſehe dich ruhig lächeln, denn du weißt, daß ich deine heiligen Pflichten gegen dein Weib erfüllen werde. Durch dieſen Kuß beſiegle ich mein Gelöbniß.“
Sie war vorhin überraſcht worden, jetzt, als ſeine Lippen ſich ihr näherten, ſtieß ſie ihn zurück. Sie wollte ſich auf die Leiche werfen, aber mit eben ſolcher Entſchloſſenheit riß er ſie am Arme zurück:
„Unglückſelige! Wiſſen Sie, was Sie thun? Er
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Mitleids. Und ſie hatte zum Vater, von dem alle
gute Gaben kommen, gebetet, daß er Dohleneck
vergebe.
Da war ſie, faſt erheitert, aufgeſtanden, ſie hatte
des Todten Hand gedrückt, auch er würde im Leben
nichts dagegen einzuwenden gehabt haben, und in
ſtiller Faſſung ſaß ſie im Lehnſtuhl, die Augen ſchlie¬
ßend, als ein heftiger Schrei ſie aufſchreckte. Der
Legationsrath, der, um Nachricht, ob Gefahr ſei, ein¬
zuziehen, ſie verlaſſen, war zurückgekehrt, er hatte ſich
über das Bett geworfen, der ſtöhnende convulſiviſche
Schrei kam von ihm.
„Da iſt ein edler Freund mir hingegangen. Er
da oben nur weiß, was er mir war!“ rief er, ſich
erhebend, die Hände über's Geſicht deckend. — Nur
auf kurze Secunden. Den nächſten Augenblick beugte
er ſich über die Wittwe, ſie fühlte einen langen Kuß
auf ihre Stirn gedrückt:
„Das iſt der Bruderkuß, der Schweſter gegeben.
Die Sterne wollen es ſo. Edler Todter, deine Seele
blickt auf uns, aber ich ſehe dich ruhig lächeln, denn
du weißt, daß ich deine heiligen Pflichten gegen dein
Weib erfüllen werde. Durch dieſen Kuß beſiegle ich
mein Gelöbniß.“
Sie war vorhin überraſcht worden, jetzt, als
ſeine Lippen ſich ihr näherten, ſtieß ſie ihn zurück.
Sie wollte ſich auf die Leiche werfen, aber mit eben
ſolcher Entſchloſſenheit riß er ſie am Arme zurück:
„Unglückſelige! Wiſſen Sie, was Sie thun? Er
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/369>, abgerufen am 28.11.2024.
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