Auch er zündete Licht an und ergriff eine Lec¬ türe, es war zufällig dieselbe, die Fuchsius ergriffen. Da schlug er die Stelle auf:
Auf siebzig Jahr kann ich mich gut erinnern; In diesem Zeitraum sah ich Schreckenstage Und wunderbare Ding', doch diese böse Nacht Macht alles Vor'ge klein.
Der Leser hielt inne: "Ein Zeichen! Warum diese Nacht?" Er las weiter:
Der Himmel, sieh, als zürn' er Menschenthaten, Dräut dieser blut'gen Bühn'. Die Uhr zeigt Tag, Doch dunkle Nacht erstickt die Wanderlampe: Ist's Sieg der Nacht, ist es die Scham des Tages, Daß Finsterniß der Erd' Antlitz begräbt, Wenn lebend Licht es küssen sollte?
Er warf den Band fort: "Albernheit! Was hat der Himmel ein Recht, auf Menschenthaten zu zürnen! Wir sind's, die die wesenlose Leere bevölkern, die Schwächlinge mit ihren Phantasiegespinnsten, die Starken mit ihren Thaten. Da ist die Frage: wel¬ cher Zauber ist stärker, die Vogelscheuchen, die sie an die Sterne binden, oder der Wille, der der Nacht und ihren Uhustimmen in's Antlitz, lacht?"
Er zündete eine chemisch präparirte Kerze an, welche einen besonders hellen Schein warf, und trat, was er wirklich selten bei Nacht that, in sein Labo¬ ratorium. Alles, wie er es am Abend verlassen, dort hingen die Bilder, da das Gerippe, die Retorten, Kolben, Tiegel auf dem Herde; einige kleine Fläsch¬ chen, auf die sein Auge zuerst fiel, standen wie zur
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Auch er zündete Licht an und ergriff eine Lec¬ türe, es war zufällig dieſelbe, die Fuchſius ergriffen. Da ſchlug er die Stelle auf:
Auf ſiebzig Jahr kann ich mich gut erinnern; In dieſem Zeitraum ſah ich Schreckenstage Und wunderbare Ding', doch dieſe böſe Nacht Macht alles Vor'ge klein.
Der Leſer hielt inne: „Ein Zeichen! Warum dieſe Nacht?“ Er las weiter:
Der Himmel, ſieh, als zürn' er Menſchenthaten, Dräut dieſer blut'gen Bühn'. Die Uhr zeigt Tag, Doch dunkle Nacht erſtickt die Wanderlampe: Iſt's Sieg der Nacht, iſt es die Scham des Tages, Daß Finſterniß der Erd' Antlitz begräbt, Wenn lebend Licht es küſſen ſollte?
Er warf den Band fort: „Albernheit! Was hat der Himmel ein Recht, auf Menſchenthaten zu zürnen! Wir ſind's, die die weſenloſe Leere bevölkern, die Schwächlinge mit ihren Phantaſiegeſpinnſten, die Starken mit ihren Thaten. Da iſt die Frage: wel¬ cher Zauber iſt ſtärker, die Vogelſcheuchen, die ſie an die Sterne binden, oder der Wille, der der Nacht und ihren Uhuſtimmen in's Antlitz, lacht?“
Er zündete eine chemiſch präparirte Kerze an, welche einen beſonders hellen Schein warf, und trat, was er wirklich ſelten bei Nacht that, in ſein Labo¬ ratorium. Alles, wie er es am Abend verlaſſen, dort hingen die Bilder, da das Gerippe, die Retorten, Kolben, Tiegel auf dem Herde; einige kleine Fläſch¬ chen, auf die ſein Auge zuerſt fiel, ſtanden wie zur
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Auch er zündete Licht an und ergriff eine Lec¬
türe, es war zufällig dieſelbe, die Fuchſius ergriffen.
Da ſchlug er die Stelle auf:
Auf ſiebzig Jahr kann ich mich gut erinnern;
In dieſem Zeitraum ſah ich Schreckenstage
Und wunderbare Ding', doch dieſe böſe Nacht
Macht alles Vor'ge klein.
Der Leſer hielt inne: „Ein Zeichen! Warum dieſe
Nacht?“ Er las weiter:
Der Himmel, ſieh, als zürn' er Menſchenthaten,
Dräut dieſer blut'gen Bühn'. Die Uhr zeigt Tag,
Doch dunkle Nacht erſtickt die Wanderlampe:
Iſt's Sieg der Nacht, iſt es die Scham des Tages,
Daß Finſterniß der Erd' Antlitz begräbt,
Wenn lebend Licht es küſſen ſollte?
Er warf den Band fort: „Albernheit! Was hat der
Himmel ein Recht, auf Menſchenthaten zu zürnen!
Wir ſind's, die die weſenloſe Leere bevölkern, die
Schwächlinge mit ihren Phantaſiegeſpinnſten, die
Starken mit ihren Thaten. Da iſt die Frage: wel¬
cher Zauber iſt ſtärker, die Vogelſcheuchen, die ſie an
die Sterne binden, oder der Wille, der der Nacht
und ihren Uhuſtimmen in's Antlitz, lacht?“
Er zündete eine chemiſch präparirte Kerze an,
welche einen beſonders hellen Schein warf, und trat,
was er wirklich ſelten bei Nacht that, in ſein Labo¬
ratorium. Alles, wie er es am Abend verlaſſen, dort
hingen die Bilder, da das Gerippe, die Retorten,
Kolben, Tiegel auf dem Herde; einige kleine Fläſch¬
chen, auf die ſein Auge zuerſt fiel, ſtanden wie zur
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/333>, abgerufen am 22.11.2024.
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