so centnerschwer drückte ihn eine Gewißheit -- daß er nichts Frohes sah.
Um den fürchterlichen Alp los zu werden, zündete er noch ein Licht an, und begrub sich unter seinen Akten. Auch aus diesen Bergen stiegen Dünste, tiefe Schachte öffneten sich, deren Ende er nicht sah, und Sphynxe lagerten sich vor dem Eingang.
"Ein Weib, das selbst eine Sphynx ist, rief er, sich im Armsessel zurücklehnend, und der Oedipus will nicht erscheinen. Die Thatsache liegt nackt da, und alle Bezüge, Fäden, die zu einem Motiv führen, plötzlich abgeschnitten! Kann ein Weib gebären ohne empfangen zu haben? Und wo wir einer Spur folg¬ ten, verschwindet sie nicht nur, sondern wir haben aktenmäßige Beweise, wie und woraus sie entstanden ist! Werden noch Ungeheuer geboren aus dem Mee¬ resschaum, wenn Götter einen Sterblichen verfluchen, oder gestalten sie sich im Laich der mephitischen Dünste dieser Zeit? Shakspeare läßt die Gräuel¬ thaten seiner Könige durch ungeheuerliche Erschei¬ nungen vorausverkünden: eine Eule verfolgt einen Falken, die Rosse Dunkans fressen sich. Solchen An¬ theil des Entsetzens nimmt die Natur am Thun der Könige! Die Zeiten sind doch nun vorüber, der Erdgeist kümmert sich nicht besorglicher um die Könige als um die Bettler; selbst wenn große Ideen geboren werden, Ideen, bestimmt die Welt zu erschüttern, was geht's die Natur an! Sie läßt keine Sterne mehr den Weisen nach der Krippe leuchten und keine mo¬
ſo centnerſchwer drückte ihn eine Gewißheit — daß er nichts Frohes ſah.
Um den fürchterlichen Alp los zu werden, zündete er noch ein Licht an, und begrub ſich unter ſeinen Akten. Auch aus dieſen Bergen ſtiegen Dünſte, tiefe Schachte öffneten ſich, deren Ende er nicht ſah, und Sphynxe lagerten ſich vor dem Eingang.
„Ein Weib, das ſelbſt eine Sphynx iſt, rief er, ſich im Armſeſſel zurücklehnend, und der Oedipus will nicht erſcheinen. Die Thatſache liegt nackt da, und alle Bezüge, Fäden, die zu einem Motiv führen, plötzlich abgeſchnitten! Kann ein Weib gebären ohne empfangen zu haben? Und wo wir einer Spur folg¬ ten, verſchwindet ſie nicht nur, ſondern wir haben aktenmäßige Beweiſe, wie und woraus ſie entſtanden iſt! Werden noch Ungeheuer geboren aus dem Mee¬ resſchaum, wenn Götter einen Sterblichen verfluchen, oder geſtalten ſie ſich im Laich der mephitiſchen Dünſte dieſer Zeit? Shakſpeare läßt die Gräuel¬ thaten ſeiner Könige durch ungeheuerliche Erſchei¬ nungen vorausverkünden: eine Eule verfolgt einen Falken, die Roſſe Dunkans freſſen ſich. Solchen An¬ theil des Entſetzens nimmt die Natur am Thun der Könige! Die Zeiten ſind doch nun vorüber, der Erdgeiſt kümmert ſich nicht beſorglicher um die Könige als um die Bettler; ſelbſt wenn große Ideen geboren werden, Ideen, beſtimmt die Welt zu erſchüttern, was geht's die Natur an! Sie läßt keine Sterne mehr den Weiſen nach der Krippe leuchten und keine mo¬
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ſo centnerſchwer drückte ihn eine Gewißheit — daß
er nichts Frohes ſah.
Um den fürchterlichen Alp los zu werden, zündete
er noch ein Licht an, und begrub ſich unter ſeinen
Akten. Auch aus dieſen Bergen ſtiegen Dünſte, tiefe
Schachte öffneten ſich, deren Ende er nicht ſah, und
Sphynxe lagerten ſich vor dem Eingang.
„Ein Weib, das ſelbſt eine Sphynx iſt, rief er,
ſich im Armſeſſel zurücklehnend, und der Oedipus
will nicht erſcheinen. Die Thatſache liegt nackt da,
und alle Bezüge, Fäden, die zu einem Motiv führen,
plötzlich abgeſchnitten! Kann ein Weib gebären ohne
empfangen zu haben? Und wo wir einer Spur folg¬
ten, verſchwindet ſie nicht nur, ſondern wir haben
aktenmäßige Beweiſe, wie und woraus ſie entſtanden
iſt! Werden noch Ungeheuer geboren aus dem Mee¬
resſchaum, wenn Götter einen Sterblichen verfluchen,
oder geſtalten ſie ſich im Laich der mephitiſchen
Dünſte dieſer Zeit? Shakſpeare läßt die Gräuel¬
thaten ſeiner Könige durch ungeheuerliche Erſchei¬
nungen vorausverkünden: eine Eule verfolgt einen
Falken, die Roſſe Dunkans freſſen ſich. Solchen An¬
theil des Entſetzens nimmt die Natur am Thun der
Könige! Die Zeiten ſind doch nun vorüber, der
Erdgeiſt kümmert ſich nicht beſorglicher um die Könige
als um die Bettler; ſelbſt wenn große Ideen geboren
werden, Ideen, beſtimmt die Welt zu erſchüttern, was
geht's die Natur an! Sie läßt keine Sterne mehr
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/323>, abgerufen am 25.11.2024.
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