"Wenn der tiefste Grund des Menschen sich auf dem Gesichte irgend ein Mal abspiegelt, so erschrecke ich, daß ich nie einen Zug auf seinem sah, der den Menschen verrieth. Die Diplomatie mag andere Ge¬ setze haben, ich aber könnte dem nie vertrauen, der stets Herr ist über sich. Wer alle Gefühle und Lei¬ denschaften kostete, wie Mithridates die Gifte, um sich ihrer zu erwehren, hat den göttlichen Menschen in sich getödtet. Wer den Ausdruck für Liebe, Haß, Furcht, Ehrgeiz, Lüsternheit und Habgier bis zum unkenntlichen Schattenspiel überwunden hat, scheidet für mich aus der Reihe der sinnlichen Geschöpfe. Ohne Sinnlichkeit kann ich mir aber keine Sittlich¬ keit denken, und keinen Charakter, der nicht die Sitte zum Fundament hat."
Der Minister sah ihn eine Weile an. Die Schärfe seines Blickes ging in Wohlgefallen über. Er klopfte ihm auf die Schulter: "Wir werden uns näher kennen lernen. -- Aber -- ich will ihn doch noch nicht aufgeben. Ich glaubte indeß das in ihm zu entdecken, was ich hier nirgend finde. Dies un¬ ausstehliche Sichspreizen und Knistern, um vorneh¬ mer scheinen zu wollen, als man ist, macht für mich diese Menschen um zehn Prozent schlechter, als sie sind. Wir wollen ihn auf die Probe stellen, Sie sollen mir behülflich sein."
"Als Kundschafter!"
„Ich kenne ihn wirklich nicht, Excellenz.“
„Weiter!“ ſprach der Miniſter.
„Wenn der tiefſte Grund des Menſchen ſich auf dem Geſichte irgend ein Mal abſpiegelt, ſo erſchrecke ich, daß ich nie einen Zug auf ſeinem ſah, der den Menſchen verrieth. Die Diplomatie mag andere Ge¬ ſetze haben, ich aber könnte dem nie vertrauen, der ſtets Herr iſt über ſich. Wer alle Gefühle und Lei¬ denſchaften koſtete, wie Mithridates die Gifte, um ſich ihrer zu erwehren, hat den göttlichen Menſchen in ſich getödtet. Wer den Ausdruck für Liebe, Haß, Furcht, Ehrgeiz, Lüſternheit und Habgier bis zum unkenntlichen Schattenſpiel überwunden hat, ſcheidet für mich aus der Reihe der ſinnlichen Geſchöpfe. Ohne Sinnlichkeit kann ich mir aber keine Sittlich¬ keit denken, und keinen Charakter, der nicht die Sitte zum Fundament hat.“
Der Miniſter ſah ihn eine Weile an. Die Schärfe ſeines Blickes ging in Wohlgefallen über. Er klopfte ihm auf die Schulter: „Wir werden uns näher kennen lernen. — Aber — ich will ihn doch noch nicht aufgeben. Ich glaubte indeß das in ihm zu entdecken, was ich hier nirgend finde. Dies un¬ ausſtehliche Sichſpreizen und Kniſtern, um vorneh¬ mer ſcheinen zu wollen, als man iſt, macht für mich dieſe Menſchen um zehn Prozent ſchlechter, als ſie ſind. Wir wollen ihn auf die Probe ſtellen, Sie ſollen mir behülflich ſein.“
„Als Kundſchafter!“
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„Ich kenne ihn wirklich nicht, Excellenz.“
„Weiter!“ ſprach der Miniſter.
„Wenn der tiefſte Grund des Menſchen ſich auf
dem Geſichte irgend ein Mal abſpiegelt, ſo erſchrecke
ich, daß ich nie einen Zug auf ſeinem ſah, der den
Menſchen verrieth. Die Diplomatie mag andere Ge¬
ſetze haben, ich aber könnte dem nie vertrauen, der
ſtets Herr iſt über ſich. Wer alle Gefühle und Lei¬
denſchaften koſtete, wie Mithridates die Gifte, um
ſich ihrer zu erwehren, hat den göttlichen Menſchen
in ſich getödtet. Wer den Ausdruck für Liebe, Haß,
Furcht, Ehrgeiz, Lüſternheit und Habgier bis zum
unkenntlichen Schattenſpiel überwunden hat, ſcheidet
für mich aus der Reihe der ſinnlichen Geſchöpfe.
Ohne Sinnlichkeit kann ich mir aber keine Sittlich¬
keit denken, und keinen Charakter, der nicht die Sitte
zum Fundament hat.“
Der Miniſter ſah ihn eine Weile an. Die
Schärfe ſeines Blickes ging in Wohlgefallen über.
Er klopfte ihm auf die Schulter: „Wir werden uns
näher kennen lernen. — Aber — ich will ihn doch
noch nicht aufgeben. Ich glaubte indeß das in ihm
zu entdecken, was ich hier nirgend finde. Dies un¬
ausſtehliche Sichſpreizen und Kniſtern, um vorneh¬
mer ſcheinen zu wollen, als man iſt, macht für mich
dieſe Menſchen um zehn Prozent ſchlechter, als ſie ſind.
Wir wollen ihn auf die Probe ſtellen, Sie ſollen
mir behülflich ſein.“
„Als Kundſchafter!“
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/244>, abgerufen am 21.11.2024.
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