vor dem Hause. Jetzt rollte vor einem der Mittel¬ fenster die Jalousie langsam auf, eine weibliche Ge¬ stalt sah auf die Arbeiter hinaus. Die Geheimräthin Lupinus gab den Leuten Anweisungen, die er nicht hörte. Sie hatte wieder ein Tuch vor dem Munde und wehte sich frische Luft zu. -- Man nannte die Lupinus eine unglückliche, schwer vom Schicksal heim¬ gesuchte Frau. Man rühmte sie wegen der stoischen Ruhe, mit welcher sie die harten Unfälle, die Schlag auf Schlag sie trafen, ertrug. Sie widmete sich Tag und Nacht der Pflege des kranken Gatten, und mußte von ihren Bekannten an die Pflicht erinnert werden, zuweilen auch an sich selbst zu denken. Die Zufälle des Geheimraths sollten besonderer Art sein, und er seine Pflegerin durch wunderbare Phantasieen plagen. Von alledem merkte man nichts, wenn sie in der Gesell¬ schaft erschien. Sie sprach von dem, was ihr bevor¬ stehe, mit Ruhe und Fassung. Sie mache sich keine Illusionen, wenn auch die Aerzte ihr Trost zusprä¬ chen; mit einem Seufzer fügte sie hinzu, sie habe in ihrem Leben die Trugschlüsse dieser Wissenschaft hin¬ länglich kennen gelernt. Sie citirte gern Stellen aus Mendelssohns Plato. Was sei denn das Leben anders, als ein Gefängniß oder ein Wachtposten, aus dem die Seele sich hinaussehnt, nach Befreiung oder Ablösung. Sie blickte auch wohl nach den Sternen, und schien über sich selbst zu lächeln, wenn sie in zwei kleinen, die sie bezeichnete, die lieblichen Kinder zu sehen glaubte, die unter ihrer mütterlichen
vor dem Hauſe. Jetzt rollte vor einem der Mittel¬ fenſter die Jalouſie langſam auf, eine weibliche Ge¬ ſtalt ſah auf die Arbeiter hinaus. Die Geheimräthin Lupinus gab den Leuten Anweiſungen, die er nicht hörte. Sie hatte wieder ein Tuch vor dem Munde und wehte ſich friſche Luft zu. — Man nannte die Lupinus eine unglückliche, ſchwer vom Schickſal heim¬ geſuchte Frau. Man rühmte ſie wegen der ſtoiſchen Ruhe, mit welcher ſie die harten Unfälle, die Schlag auf Schlag ſie trafen, ertrug. Sie widmete ſich Tag und Nacht der Pflege des kranken Gatten, und mußte von ihren Bekannten an die Pflicht erinnert werden, zuweilen auch an ſich ſelbſt zu denken. Die Zufälle des Geheimraths ſollten beſonderer Art ſein, und er ſeine Pflegerin durch wunderbare Phantaſieen plagen. Von alledem merkte man nichts, wenn ſie in der Geſell¬ ſchaft erſchien. Sie ſprach von dem, was ihr bevor¬ ſtehe, mit Ruhe und Faſſung. Sie mache ſich keine Illuſionen, wenn auch die Aerzte ihr Troſt zuſprä¬ chen; mit einem Seufzer fügte ſie hinzu, ſie habe in ihrem Leben die Trugſchlüſſe dieſer Wiſſenſchaft hin¬ länglich kennen gelernt. Sie citirte gern Stellen aus Mendelsſohns Plato. Was ſei denn das Leben anders, als ein Gefängniß oder ein Wachtpoſten, aus dem die Seele ſich hinausſehnt, nach Befreiung oder Ablöſung. Sie blickte auch wohl nach den Sternen, und ſchien über ſich ſelbſt zu lächeln, wenn ſie in zwei kleinen, die ſie bezeichnete, die lieblichen Kinder zu ſehen glaubte, die unter ihrer mütterlichen
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vor dem Hauſe. Jetzt rollte vor einem der Mittel¬
fenſter die Jalouſie langſam auf, eine weibliche Ge¬
ſtalt ſah auf die Arbeiter hinaus. Die Geheimräthin
Lupinus gab den Leuten Anweiſungen, die er nicht
hörte. Sie hatte wieder ein Tuch vor dem Munde
und wehte ſich friſche Luft zu. — Man nannte die
Lupinus eine unglückliche, ſchwer vom Schickſal heim¬
geſuchte Frau. Man rühmte ſie wegen der ſtoiſchen
Ruhe, mit welcher ſie die harten Unfälle, die Schlag
auf Schlag ſie trafen, ertrug. Sie widmete ſich Tag
und Nacht der Pflege des kranken Gatten, und mußte
von ihren Bekannten an die Pflicht erinnert werden,
zuweilen auch an ſich ſelbſt zu denken. Die Zufälle des
Geheimraths ſollten beſonderer Art ſein, und er ſeine
Pflegerin durch wunderbare Phantaſieen plagen. Von
alledem merkte man nichts, wenn ſie in der Geſell¬
ſchaft erſchien. Sie ſprach von dem, was ihr bevor¬
ſtehe, mit Ruhe und Faſſung. Sie mache ſich keine
Illuſionen, wenn auch die Aerzte ihr Troſt zuſprä¬
chen; mit einem Seufzer fügte ſie hinzu, ſie habe in
ihrem Leben die Trugſchlüſſe dieſer Wiſſenſchaft hin¬
länglich kennen gelernt. Sie citirte gern Stellen
aus Mendelsſohns Plato. Was ſei denn das Leben
anders, als ein Gefängniß oder ein Wachtpoſten,
aus dem die Seele ſich hinausſehnt, nach Befreiung
oder Ablöſung. Sie blickte auch wohl nach den
Sternen, und ſchien über ſich ſelbſt zu lächeln, wenn
ſie in zwei kleinen, die ſie bezeichnete, die lieblichen
Kinder zu ſehen glaubte, die unter ihrer mütterlichen
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/225>, abgerufen am 24.11.2024.
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