nichtet. O immer zu, die Natur ist eine elende Kam¬ merzofe des Mysteriums, aus dem die Gnade leuchtet. Immer zu, mein Freund, sich selbst verzehrt, bis der Durst brennend, unerträglich wird! Dann verlangen auch Sie nach dem Quell. O welche Kämpfe wird es Ihnen kosten, wie wird diese Stirn rollen vor stol¬ zem Zorn, wie diese Riesenbrust toben vor unaus¬ sprechlicher Pein, wie werden Sie wüthend mit der Faust dagegen schlagen, ringend einen Gigantenkampf mit dem Selbstbekenntniß, bis -- bis der Riese kra¬ chend zu Boden stürzt, und wie ein Kind an der Mutter Brust liegt! Wie werden Sie schlürfen, unersättlich an dem Born der Gnade!"
"Mais en attendant?" sagte der Legationsrath.
"Rührt Sie denn nicht Adelheids Schönheit?"
"Daß ich nicht wüßte."
"Mir unerklärlich, mein Herr großer Sünder. Anfänglich hielt ich es für Verstellung, Sie wollten mich täuschen. Jetzt haben Sie mir nicht allein die Beruhigung gegeben, sondern auch das Räthsel zurück¬ gelassen, daß das Mädchen Sie kalt läßt. Ist sie Ihnen eine zu vollkommene Schönheit?"
"Kunstkenner gehen auch an vollendeten Meister¬ werken vorüber."
"Weil nur die sie interessiren, fiel sie ein, die Mängel haben. Ist's der Egoismus des kritischen Sinnes, der immer corrigirend schaffen möchte?"
"Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sagen Sie, eine Antipathie gegen was man reine Unschuldsseelen
nichtet. O immer zu, die Natur iſt eine elende Kam¬ merzofe des Myſteriums, aus dem die Gnade leuchtet. Immer zu, mein Freund, ſich ſelbſt verzehrt, bis der Durſt brennend, unerträglich wird! Dann verlangen auch Sie nach dem Quell. O welche Kämpfe wird es Ihnen koſten, wie wird dieſe Stirn rollen vor ſtol¬ zem Zorn, wie dieſe Rieſenbruſt toben vor unaus¬ ſprechlicher Pein, wie werden Sie wüthend mit der Fauſt dagegen ſchlagen, ringend einen Gigantenkampf mit dem Selbſtbekenntniß, bis — bis der Rieſe kra¬ chend zu Boden ſtürzt, und wie ein Kind an der Mutter Bruſt liegt! Wie werden Sie ſchlürfen, unerſättlich an dem Born der Gnade!“
„Mais en attendant?“ ſagte der Legationsrath.
„Rührt Sie denn nicht Adelheids Schönheit?“
„Daß ich nicht wüßte.“
„Mir unerklärlich, mein Herr großer Sünder. Anfänglich hielt ich es für Verſtellung, Sie wollten mich täuſchen. Jetzt haben Sie mir nicht allein die Beruhigung gegeben, ſondern auch das Räthſel zurück¬ gelaſſen, daß das Mädchen Sie kalt läßt. Iſt ſie Ihnen eine zu vollkommene Schönheit?“
„Kunſtkenner gehen auch an vollendeten Meiſter¬ werken vorüber.“
„Weil nur die ſie intereſſiren, fiel ſie ein, die Mängel haben. Iſt's der Egoismus des kritiſchen Sinnes, der immer corrigirend ſchaffen möchte?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sagen Sie, eine Antipathie gegen was man reine Unſchuldsſeelen
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nichtet. O immer zu, die Natur iſt eine elende Kam¬
merzofe des Myſteriums, aus dem die Gnade leuchtet.
Immer zu, mein Freund, ſich ſelbſt verzehrt, bis der
Durſt brennend, unerträglich wird! Dann verlangen
auch Sie nach dem Quell. O welche Kämpfe wird
es Ihnen koſten, wie wird dieſe Stirn rollen vor ſtol¬
zem Zorn, wie dieſe Rieſenbruſt toben vor unaus¬
ſprechlicher Pein, wie werden Sie wüthend mit der
Fauſt dagegen ſchlagen, ringend einen Gigantenkampf
mit dem Selbſtbekenntniß, bis — bis der Rieſe kra¬
chend zu Boden ſtürzt, und wie ein Kind an der
Mutter Bruſt liegt! Wie werden Sie ſchlürfen,
unerſättlich an dem Born der Gnade!“
„Mais en attendant?“ ſagte der Legationsrath.
„Rührt Sie denn nicht Adelheids Schönheit?“
„Daß ich nicht wüßte.“
„Mir unerklärlich, mein Herr großer Sünder.
Anfänglich hielt ich es für Verſtellung, Sie wollten
mich täuſchen. Jetzt haben Sie mir nicht allein die
Beruhigung gegeben, ſondern auch das Räthſel zurück¬
gelaſſen, daß das Mädchen Sie kalt läßt. Iſt ſie
Ihnen eine zu vollkommene Schönheit?“
„Kunſtkenner gehen auch an vollendeten Meiſter¬
werken vorüber.“
„Weil nur die ſie intereſſiren, fiel ſie ein, die
Mängel haben. Iſt's der Egoismus des kritiſchen
Sinnes, der immer corrigirend ſchaffen möchte?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sagen Sie,
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/110>, abgerufen am 17.07.2024.
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