geführt, sagte der Legationsrath, oder er dachte es vielleicht nur, denn die Fürstin, in sich versunken, schien auf seine Erwiederung kaum zu achten. "Wenn man nur dem Geschöpf diese Ueberzeugung auch ein¬ impfen könnte, so würden seine Schauer, die, wie ich glaube, gemeinerer Art sind, sich gewiß auch in eine wollüstige Empfindung auflösen."
"Sie würden es!" rief die Fürstin. "Wer sagt Ihnen, daß sie es nicht schon sind! Er leidet für seine Herrin, die er anbetet, er leidet durch ihren Willen, und er kennt kein höher Gesetz. Diese Leib¬ eigenen sind glücklicher als wir, mein Herr Legations¬ rath von Wandel. Wie das Animal, die Pflanze, stehen sie dem Ursprünglichen näher. Und wir rin¬ gen unser Leben durch vergebens nach dem Paradie¬ seszustande zurück, in dem sie existiren. Wie die Lilie auf dem Felde, wie der Vogel im Busch, freuen sie sich der Sonne, die sie bescheint, sie legen ihr Haupt nieder auf den grünen Rasen unter seinem Himmel, oder auf die Bank, die man ihnen am Ofen gebaut. Sie denken nicht, sie sorgen nicht auf den andern Tag; Speise und Trank ihnen schaffen, ist unsere Aufgabe. Sie kennen unsre Pein und unsre Qua¬ len nicht, unsre Zerrüttung und Zerrissenheit steht ihnen fern. Sie würden sie so wenig begreifen als der Herr von Wandel, warum der Erlöser für uns gelitten hat, warum in Natur und Welt es so gefügt ist, daß immer ein Anderer für den Schuldigen lei¬ det, daß es Sündenböcke gab im alten Testament,
geführt, ſagte der Legationsrath, oder er dachte es vielleicht nur, denn die Fürſtin, in ſich verſunken, ſchien auf ſeine Erwiederung kaum zu achten. „Wenn man nur dem Geſchöpf dieſe Ueberzeugung auch ein¬ impfen könnte, ſo würden ſeine Schauer, die, wie ich glaube, gemeinerer Art ſind, ſich gewiß auch in eine wollüſtige Empfindung auflöſen.“
„Sie würden es!“ rief die Fürſtin. „Wer ſagt Ihnen, daß ſie es nicht ſchon ſind! Er leidet für ſeine Herrin, die er anbetet, er leidet durch ihren Willen, und er kennt kein höher Geſetz. Dieſe Leib¬ eigenen ſind glücklicher als wir, mein Herr Legations¬ rath von Wandel. Wie das Animal, die Pflanze, ſtehen ſie dem Urſprünglichen näher. Und wir rin¬ gen unſer Leben durch vergebens nach dem Paradie¬ ſeszuſtande zurück, in dem ſie exiſtiren. Wie die Lilie auf dem Felde, wie der Vogel im Buſch, freuen ſie ſich der Sonne, die ſie beſcheint, ſie legen ihr Haupt nieder auf den grünen Raſen unter ſeinem Himmel, oder auf die Bank, die man ihnen am Ofen gebaut. Sie denken nicht, ſie ſorgen nicht auf den andern Tag; Speiſe und Trank ihnen ſchaffen, iſt unſere Aufgabe. Sie kennen unſre Pein und unſre Qua¬ len nicht, unſre Zerrüttung und Zerriſſenheit ſteht ihnen fern. Sie würden ſie ſo wenig begreifen als der Herr von Wandel, warum der Erlöſer für uns gelitten hat, warum in Natur und Welt es ſo gefügt iſt, daß immer ein Anderer für den Schuldigen lei¬ det, daß es Sündenböcke gab im alten Teſtament,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0105"n="95"/>
geführt, ſagte der Legationsrath, oder er dachte es<lb/>
vielleicht nur, denn die Fürſtin, in ſich verſunken,<lb/>ſchien auf ſeine Erwiederung kaum zu achten. „Wenn<lb/>
man nur dem Geſchöpf dieſe Ueberzeugung auch ein¬<lb/>
impfen könnte, ſo würden ſeine Schauer, die, wie ich<lb/>
glaube, gemeinerer Art ſind, ſich gewiß auch in eine<lb/>
wollüſtige Empfindung auflöſen.“</p><lb/><p>„Sie würden es!“ rief die Fürſtin. „Wer ſagt<lb/>
Ihnen, daß ſie es nicht ſchon ſind! Er leidet für<lb/>ſeine Herrin, die er anbetet, er leidet durch ihren<lb/>
Willen, und er kennt kein höher Geſetz. Dieſe Leib¬<lb/>
eigenen ſind glücklicher als wir, mein Herr Legations¬<lb/>
rath von Wandel. Wie das Animal, die Pflanze,<lb/>ſtehen ſie dem Urſprünglichen näher. Und wir rin¬<lb/>
gen unſer Leben durch vergebens nach dem Paradie¬<lb/>ſeszuſtande zurück, in dem ſie exiſtiren. Wie die Lilie<lb/>
auf dem Felde, wie der Vogel im Buſch, freuen ſie<lb/>ſich der Sonne, die ſie beſcheint, ſie legen ihr Haupt<lb/>
nieder auf den grünen Raſen unter ſeinem Himmel,<lb/>
oder auf die Bank, die man ihnen am Ofen gebaut.<lb/>
Sie denken nicht, ſie ſorgen nicht auf den andern<lb/>
Tag; Speiſe und Trank ihnen ſchaffen, iſt unſere<lb/>
Aufgabe. Sie kennen unſre Pein und unſre Qua¬<lb/>
len nicht, unſre Zerrüttung und Zerriſſenheit ſteht<lb/>
ihnen fern. Sie würden ſie ſo wenig begreifen als<lb/>
der Herr von Wandel, warum der Erlöſer für uns<lb/>
gelitten hat, warum in Natur und Welt es ſo gefügt<lb/>
iſt, daß immer ein Anderer für den Schuldigen lei¬<lb/>
det, daß es Sündenböcke gab im alten Teſtament,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[95/0105]
geführt, ſagte der Legationsrath, oder er dachte es
vielleicht nur, denn die Fürſtin, in ſich verſunken,
ſchien auf ſeine Erwiederung kaum zu achten. „Wenn
man nur dem Geſchöpf dieſe Ueberzeugung auch ein¬
impfen könnte, ſo würden ſeine Schauer, die, wie ich
glaube, gemeinerer Art ſind, ſich gewiß auch in eine
wollüſtige Empfindung auflöſen.“
„Sie würden es!“ rief die Fürſtin. „Wer ſagt
Ihnen, daß ſie es nicht ſchon ſind! Er leidet für
ſeine Herrin, die er anbetet, er leidet durch ihren
Willen, und er kennt kein höher Geſetz. Dieſe Leib¬
eigenen ſind glücklicher als wir, mein Herr Legations¬
rath von Wandel. Wie das Animal, die Pflanze,
ſtehen ſie dem Urſprünglichen näher. Und wir rin¬
gen unſer Leben durch vergebens nach dem Paradie¬
ſeszuſtande zurück, in dem ſie exiſtiren. Wie die Lilie
auf dem Felde, wie der Vogel im Buſch, freuen ſie
ſich der Sonne, die ſie beſcheint, ſie legen ihr Haupt
nieder auf den grünen Raſen unter ſeinem Himmel,
oder auf die Bank, die man ihnen am Ofen gebaut.
Sie denken nicht, ſie ſorgen nicht auf den andern
Tag; Speiſe und Trank ihnen ſchaffen, iſt unſere
Aufgabe. Sie kennen unſre Pein und unſre Qua¬
len nicht, unſre Zerrüttung und Zerriſſenheit ſteht
ihnen fern. Sie würden ſie ſo wenig begreifen als
der Herr von Wandel, warum der Erlöſer für uns
gelitten hat, warum in Natur und Welt es ſo gefügt
iſt, daß immer ein Anderer für den Schuldigen lei¬
det, daß es Sündenböcke gab im alten Teſtament,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/105>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.