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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852.

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geblieben. Ihre Gedanken machten Kreuz- und Quer¬
sprünge: "Was ist denn wichtig, und was sind nicht
Bagatellen! Nur das, was grade gilt. Und sie gilt,
weil -- weil gestern die Frivolität Mode war und
heute die Unschuld. Auf wie lange? Und wenn man
auch Unschuld und Schönheit conserviren könnte wie
Mumien, so würden es doch abgestandene Dinge
werden, denn der Reiz ist nur beim Neuen. Und
wer ihnen immer Neues, immer Pikantes vorsetzen,
wer sich wie das Chamäleon umwandeln könnte, in
jedem Jahr und Monat ihnen neu sein, der würde
ihnen am Ende auch gewöhnlich und alt werden,
weil er es kann, weil man es von ihm erwartet,
und sie würden ihn bei Seite schieben, wenn er nichts
anders kann, und ihn wegwerfen, wenn er es nicht
mehr kann."

Als der Blumenstrauß, den sie aus der Vase
genommen, von ihr gedankenlos zerpflückt war, er¬
schrak sie über die bittre Richtung, die ihre Gedanken
genommen. Eine schlechte Vorbereitung zu dem heu¬
tigen Abend. Es sollte ein Fest der feinsten Heiter¬
keit sein. Wenn sie den Legationsrath präsentiren
konnte, ihn, den neuesten Lion der Gesellschaft, den
bewunderten, räthselhaften Mann, der aber als er,
eine neue Sonne, aufgegangen, plötzlich wieder ver¬
schwunden war! Wenn er, nach seiner langen Ab¬
wesenheit, zuerst in ihrer Gesellschaft wieder erschien!
Wenn er jetzt anklopfen sollte, sein erster Besuch bei
ihr? Wenn -- Niemand kannte den geheimen Grund

geblieben. Ihre Gedanken machten Kreuz- und Quer¬
ſprünge: „Was iſt denn wichtig, und was ſind nicht
Bagatellen! Nur das, was grade gilt. Und ſie gilt,
weil — weil geſtern die Frivolität Mode war und
heute die Unſchuld. Auf wie lange? Und wenn man
auch Unſchuld und Schönheit conſerviren könnte wie
Mumien, ſo würden es doch abgeſtandene Dinge
werden, denn der Reiz iſt nur beim Neuen. Und
wer ihnen immer Neues, immer Pikantes vorſetzen,
wer ſich wie das Chamäleon umwandeln könnte, in
jedem Jahr und Monat ihnen neu ſein, der würde
ihnen am Ende auch gewöhnlich und alt werden,
weil er es kann, weil man es von ihm erwartet,
und ſie würden ihn bei Seite ſchieben, wenn er nichts
anders kann, und ihn wegwerfen, wenn er es nicht
mehr kann.“

Als der Blumenſtrauß, den ſie aus der Vaſe
genommen, von ihr gedankenlos zerpflückt war, er¬
ſchrak ſie über die bittre Richtung, die ihre Gedanken
genommen. Eine ſchlechte Vorbereitung zu dem heu¬
tigen Abend. Es ſollte ein Feſt der feinſten Heiter¬
keit ſein. Wenn ſie den Legationsrath präſentiren
konnte, ihn, den neueſten Lion der Geſellſchaft, den
bewunderten, räthſelhaften Mann, der aber als er,
eine neue Sonne, aufgegangen, plötzlich wieder ver¬
ſchwunden war! Wenn er, nach ſeiner langen Ab¬
weſenheit, zuerſt in ihrer Geſellſchaft wieder erſchien!
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[58/0068] geblieben. Ihre Gedanken machten Kreuz- und Quer¬ ſprünge: „Was iſt denn wichtig, und was ſind nicht Bagatellen! Nur das, was grade gilt. Und ſie gilt, weil — weil geſtern die Frivolität Mode war und heute die Unſchuld. Auf wie lange? Und wenn man auch Unſchuld und Schönheit conſerviren könnte wie Mumien, ſo würden es doch abgeſtandene Dinge werden, denn der Reiz iſt nur beim Neuen. Und wer ihnen immer Neues, immer Pikantes vorſetzen, wer ſich wie das Chamäleon umwandeln könnte, in jedem Jahr und Monat ihnen neu ſein, der würde ihnen am Ende auch gewöhnlich und alt werden, weil er es kann, weil man es von ihm erwartet, und ſie würden ihn bei Seite ſchieben, wenn er nichts anders kann, und ihn wegwerfen, wenn er es nicht mehr kann.“ Als der Blumenſtrauß, den ſie aus der Vaſe genommen, von ihr gedankenlos zerpflückt war, er¬ ſchrak ſie über die bittre Richtung, die ihre Gedanken genommen. Eine ſchlechte Vorbereitung zu dem heu¬ tigen Abend. Es ſollte ein Feſt der feinſten Heiter¬ keit ſein. Wenn ſie den Legationsrath präſentiren konnte, ihn, den neueſten Lion der Geſellſchaft, den bewunderten, räthſelhaften Mann, der aber als er, eine neue Sonne, aufgegangen, plötzlich wieder ver¬ ſchwunden war! Wenn er, nach ſeiner langen Ab¬ weſenheit, zuerſt in ihrer Geſellſchaft wieder erſchien! Wenn er jetzt anklopfen ſollte, ſein erſter Beſuch bei ihr? Wenn — Niemand kannte den geheimen Grund

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/68>, abgerufen am 23.11.2024.